Zufällige Begegnung (Charlene), Teil 7

So erschien es ihr zumindest. Es war Wochenbeginn, Montag, und sie hatte heute Bereitschaftsdienst. Den absolvierte sie irgendwie wie im Traum, obwohl sie kaum schlafen konnte, quasi durcharbeitete. Am Dienstagnachmittag fiel sie dann völlig übermüdet in ihr Bett und schlief einfach tief und traumlos durch. Der Mittwoch versprach wieder ein Tanz mit klirrenden Ketten zu werden, und das bestätigte sich auch. Charlene kam kaum zum Luftholen. Gegen achtzehn Uhr wurde die Ambulanz für den normalen Verkehr für gewöhnlich geschlossen. Das hieß aber nicht, dass sie dann Feierabend hatte, die Eingänge zogen sich immer noch hin. Und an diesem Tag war Herr Wagner um 17:30 wieder da.

Charlene war zu diesem Zeitpunkt schon völlig erschöpft von dem Marathon, der ihr in dieser ersten Hälfte ihrer Arbeitswoche bereits alles abverlangt hatte, was sie an Kräften aufbringen konnte. Aber als sie Herrn Wagner die hintere Tür so selbstverständlich hereinkommen sah, wie jedes ihrer Teammitglieder das getan hätte, hatte sie schlagartig den Blick seiner tiefblauen Augen wieder vor sich, seinen Blick, der auf ihr selbst geruht hatte. Sie war gerade auf dem Weg zu einem herein gekommenen Notfall, aber sie bog fast wie ferngesteuert in seine Richtung ab und eilte zu ihm, noch bevor eine der Schwestern das tun konnte. Das war durchaus nicht ungewöhnlich für ihre Schwestern, sie kannten das alle von ihr, dass sie durchaus auch mal ihre pflegerischen Aufgaben übernahm, so wie auch die Schwestern durchaus einmal ärztliche Tätigkeiten für sie versahen. Eine besondere Handlung war das nur für Charlene selbst.

Sie griff Herrn Wagner mit einem raschen, wortlosen Gruß am Ellbogen und führte ihn in eine der freien Behandlungskabinen, und dieser faszinierende Mann vor ihr verstand sie sofort und kam unauffällig und wortlos mit ihr. In der Kabine bat sie ihm noch immer gehetzt und wortlos, Platz zu nehmen und verließ ihn sofort wieder. Sie dachte nicht darüber nach, warum sie mit diesem stummen Einverständnis und der klugen Reaktion von ihm überhaupt rechnete, sie handelte einfach, sie konnte gar nicht anders. Sie hatte ihn in einem freien Eckchen in dieser Ambulanz und in ihrer knapp bemessenen Zeit erfolgreich untergebracht, und mehr zählte in diesem Augenblick für sie nicht.

Sie stieß zu dem Notfall dazu, einem schwer verunfallten Mann in den Fünfzigern, ein angekündigter Autounfall mit mehreren Beteiligten. Einer ihrer jüngeren Kollegen war bereits dort und legte dem Mann eine Braunüle, zwei Schwestern hatten sich eingefunden und erhoben gerade die Vitalwerte. Im Raum herrschte eine ruhige und lockere Stimmung, sie selbst als Profi fühlte aber die untergründige Spannung. Der Mann konnte lebensgefährlich verletzt sein, und wenn er das war, dann war jede einzelne Minute, die verrann, kostbar. Der Mann war bei vollem Bewusstsein und orientiert, ihr Kollege führte bereits eine erste, sondierende Befragung durch. Charlene stellte sich ihm rasch vor und bat ihn um die Erlaubnis, ihn körperlich untersuchen zu dürfen, begann damit aber schon, während er ihr noch zunickte in der vorauseilenden Gewissheit, dass er so reagieren würde. Schließlich würde er leben wollen.

Sie auskultierte seine Lungen und fand bestätigt, was sie an seiner mühsamen Atmung schon hatte ablesen können: Das Atemgeräusch seiner Lungen war auf einer Seite deutlich abgeschwächt. Der Mann hatte schon leicht zyanotisch blaue Lippen, eine Sauerstoffsättigung von unter neunzig Prozent, wie ihr schon die charakteristische Klangfarbe des Pfeiftons des Pulsoxymeters verriet, und einen sehr schnellen Herzschlag. Sie musste erst gar nicht auf das EKG sehen, das mitlief, das rhythmische Pfeifen des Oxymeters verriet ihr auch das. Der junge Kollege, der immer noch Blut abnahm, hatte das alles noch gar nicht erfasst, aber hier und jetzt war keine Zeit für eine Ausbildung, der Patient war lebensbedrohlich verletzt.

Charlene war eine erfahrene Chirurgin und eine Frau der Tat. Sie bat den jungen Kollegen, den Mann im Bett sicher aufzusetzen, während sie dem Patienten schon wortlos kurz den Rücken zuwandte, bereits eine Einerkanüle aus dem Fach holte, einen Finger eines gewöhnlichen Hygienehandschuhs abschnitt und ihn rund um den gelben Konus der dünnen Nadel sicher befestigte. Der Patient sah ihr vertrauensvoll in die Augen, als sie wieder an sein Bett trat, die präparierte Nadel und eine Flasche mit Desinfektionsmittel in der Hand. Sie nickte ihm nur zu, neben seiner rechten Schulter stehend.

„Ich werde Ihnen einmal kurz wehtun müssen“, sprach sie den Patienten an. „Meinen Sie, dass Sie ruhig halten können?“ Der Mann sah ihr in die Augen, die Verbindung zwischen ihnen stand. Er nickte nur, verzichtete auf gesprochene Worte, Charlene wusste, er brauchte seine Luft dringender zum Atmen. Sie hob den rechten Arm des Patienten erst in die Waagerechte, und als der Patient ihrer Führung willig folgte, hob sie seinen Arm über seinen Kopf.

„Halten Sie“, bat sie den Kollegen nur. Der griff die Hand des Patienten und riss die Augen auf, was der Patient selber glücklicherweise nicht sah. Jetzt begriff er erst, welche Diagnose sie gestellt hatte und was sie nun zu tun im Begriff war. Der Patient hatte höchstwahrscheinlich eine gebrochene Rippe, das wusste Charlene nicht so genau, aber irgendetwas hatte seine Lunge von innen verletzt. Im Thorax herrschte Unterdruck, und durch diese innere Verletzung der äußeren Haut der Lunge trat bei jedem Atemzug des Mannes etwas Luft in den Thorax zwischen Lunge und Rippenfell, wo sie nicht hin gehörte. Dort war sie gefangen und presste sowohl den Lungenflügel von außen zusammen wie auch das Herz des Patienten zur anderen Seite, und dieser Zustand wurde mit jedem mühsamen Atemzug des Patienten schlimmer. Charlene tastete nach der letzten, der untersten Rippe des Brustkorbs des Patienten und auskultierte etwas darüber und in gerader Linie unter der Achselhöhle noch einmal. Ihre Diagnose bestätigte sich, hier war das Atemgeräusch so weit abgeschwächt, dass es kaum noch hörbar war.

Sie desinfizierte den Bereich großzügig, informierte den Patienten dabei ruhig über diese Handlung. Er nickte nur. Dann tastete sie nach der zweitletzten Rippe, ging hoch zur drittletzten und drückte mit ihrem Zeigefinger als Führung direkt unter diese Rippe. Die Rippe zeichnete sich deutlich ab, der Mann war schlank, was ihr ihr jetziges Vorhaben sehr erleichterte. Sie setzte die Nadel direkt unter der Rippe an, stach in direkter Linie unter der Achselhöhle auf die Rippe und rutschte dann mit der Nadelspitze am Unterrand der Rippe herum und stach so direkt unter der Rippe mit Druck energisch tiefer. Der Wiederstand, den ihrer Nadel das lebende Gewebe entgegen setzte, wurde erwartungsgemäß für einen Moment stärker, dann ließ er schlagartig nach. Sofort blähte sich der Fingerling mit Luft auf wie von Zauberhand. Charlene nickte nur, griff nach einer Schere und schnitt am Ende des Fingerlings ein kleines Loch in das PVC-Gewebe. Sofort pfiff die Luft mit Druck hinaus, dann atmete der Mann ein und der Fingerling knautschte zusammen, bis er jede Luft verloren hatte. Der Mann atmete aus, und wieder pfiff die Luft unter Druck aus dem sich schlagartig aufblähenden Fingerling.  Charlene hatte ein sehr einfaches, aber ebenso wirksam arbeitendes Ventil geschaffen, die Atemluft konnte trotz innerer Verletzung der Lunge bei der Exspiration des Patienten nach außen entweichen, und bei der Inspiration kam keine zusätzliche Luft mehr in diesen Raum. Der Erfolg dieser Maßnahme war immer dramatisch, sofort holte der Patient befreiter Luft und seine hektische Atmung wurde ruhiger.

Charlene richtete sich müde auf. So einfach die Maßnahme auch war, sie hatte sie alle Kraft gekostet, die sie hatte, denn sie durfte dabei keinen Fehler begehen. Sie hatte hochkonzentriert gearbeitet, um dem Patienten das Luftholen zu ermöglichen, bevor er in eine lebensbedrohliche Situation kommen würde. Dementsprechend hatte sie wohl die Ruhe in der Behandlungskabine wahrgenommen, nicht aber, dass ihr Oberarzt, Herr Reisinger, den Raum betrete hatte. Sie suchte die leicht umflorten Augen des Patienten, die sich bereits klärten, als er tief durchatmete und noch gar nicht richtig begriff, was überhaupt geschehen war. Sie lächelte ihn an und zuckte dann zusammen, als Herr Reisinger sie mit seiner ruhigen Stimme ansprach.

„Gute Arbeit, Charlene“, lobte er sie mit leiser Stimme, was er selten so deutlich tat, und machte dann eine kurze Sprechpause, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich wieder fassen zu können. „Aber was machst du so spät noch hier, Kind? Solltest du nicht längst zu Hause sein?“

Charlene lächelte. Sie war Ende dreißig, hatte ihren Facharzt in Chirurgie bereits absolviert, aber ihr liebster Oberarzt hatte bereits die fünfzig passiert und ließ sie gerne wissen, dass er immer noch über sie wachte, wie er das schon immer getan hatte, seitdem sie hier arbeitete. Von da her konnte sie sich wahrhaftig nicht beschweren. Sie nickte nur.

„Ich übernehme, Charlie“, sprach er dann weiter, „und du siehst zu, dass du hier Land gewinnst!“

„Ich muss nur noch einen Patienten versorgen“, antwortete sie ihm wie in einem Traum, denn die Erschöpfung übermannte sie in diesem Augenblick fast. Herr Reisinger, Wolfgang, sah ihr prüfend in die Augen. „Gut“, gab er sein Einverständnis, „irgendetwas Besonderes bei diesem letzten Patienten von dir?“

Charlene schüttelte rasch den Kopf, wieder, bevor sie überhaupt zum Denken kam. Ihr Kopf führte in diesem Moment eindeutig ein Eigenleben, das sie gar nicht mehr so recht mit bekam. „Nein, Wolfgang, dank dir. Das ist nur noch eine Routineuntersuchung.“

„Gut, dann mach, dass du hier heraus kommst!“, wies Wolfgang sie erneut burschikos an und ließ sie damit wortlos wissen, dass ihm ihre Erschöpfung deutlich aufgefallen war. Und dass er mit ihr und ihrer Arbeit zufrieden war. Charlene durchflutete kurz ein entspannendes Gefühl, es tat gut, nach getaner Arbeit so gelobt zu werden. Sie lächelte Wolfgang in die braunen Augen, der lächelte zurück und nickte. Sie selbst nickte ihrerseits dem Patienten verabschiedend zu und verließ dann rasch den Raum. Sie wusste, sie musste rasch weg hier, aus dem Krankenhaus, sonst würde der nächste Notfall nicht lange auf sich warten lassen und ihr den Rest geben. Und trotzdem lenkten sie ihre Schritte wieder fast wie ferngesteuert zu der Kabine, wo Herr Wagner noch auf sie warten musste.

***

Er stand auf, als sie den Raum betrat, und rückte ihr wortlos seinen Stuhl zurecht, auf dem er gerade noch gesessen hatte. Und sie setzte sich wie selbstverständlich hin. Die Müdigkeit machte sich plötzlich Raum in ihr, sie wusste kaum, wie ihr war, aber ihre Glieder wurden schwer, sie ließ sich zurück sinken, bis ihr Rücken fest an die Rücklehne des Stuhls gepresst lag. Ihre Augen wurden feucht. Noch niemals hatte sie sich vor einem Patienten derart gehen lassen, wirklich noch nie. Und noch nie hatte sie sich derart wenig darum geschert. Sie ließ ihren Kopf für einen Moment sinken, richtete ihren Blick ins Leere.

„Charlene“, sprach sie ihr Patient vor ihr plötzlich an.

Ihr Kopf ruckte nach oben und sie begegnete mit ihren grün-glänzenden Augen seinem tiefblauen Blick. Und in diesem Moment drehte sich die Welt. Sie konnte bis heute nicht sagen, wie das gekommen war, was da in ihr abgegangen war, aber sie sah plötzlich nur noch den Mann vor sich und nicht mehr den Patienten. Als hätte er sich komplett verändert. Sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Die Art, wie er vor ihr auf der Untersuchungsliege saß, leicht vorgebeugt, sein besorgter Ausdruck im Gesicht. Besorgt um sie. Seine ganze Körperhaltung drückte diese Besorgnis aus, aber sie drückte noch viel mehr aus. Er besaß etwas, das sie nicht benennen konnte und das sie wie magnetisch anzog. War es die wie selbstverständlich wirkende Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, oder die untergründige Aura von mentaler und physischer Stärke, die ihn umgab? Charlene hatte den Eindruck, der Mann vor ihr wusste ganz genau, was er tat, und warum er das tat, und er zweifelte nicht im Geringsten an sich selbst. Und sein Blick drückte einen ganz selbstverständlichen Führungsanspruch aus, es wäre gegen ihre eigene weibliche Natur gewesen, ihm nicht zu folgen. Er nahm jetzt auch völlig folgerichtig für sie die Position ihr gegenüber ein, die sie ihm gegenüber eingenommen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Der Stärkere führte, dieses Prinzip war Charlene nur allzu geläufig, aber auf ihrer Arbeit gab es echte Macht, die auf Geld und gesellschaftlichem Einfluss nur mittelbar beruhte. Hier führte der erfahrenste Arzt im Idealfall durch  informelle Führung durch Fachwissen, denn hier ging es um das Leben und die Unversehrtheit von Menschen, Es ging weniger die Führung, die ein Mann übernahm, weil er eben ein richtiger Mann war. Für Charlene war das völlig klar und offensichtlich, und jetzt hatte Herr Wagner die Führung völlig unspektakulär übernommen. Charlene konnte sehr schnell umschalten, deswegen reagierte sie sofort, obwohl ihr diese Situation vollkommen neu war.

Sie musterte ihn verwirrt, als hätte er sich gerade eben vor ihr aus der Luft materialisiert, so verändert war der ganze Raum um sie herum. Als befände sie sich nicht mehr in ihrem Arztkittel, nicht mehr im Krankenhaus, nicht mehr auf der Arbeit, gar nicht mehr in ihrem Leben. Sie zwinkerte überrascht. Aber er lächelte ihr nur in die Augen, als wäre ihm auch das klar, als würde er den Grund für ihre offensichtliche Verwirrung nur allzu gut verstehen können. Sie studierte sein offenes Gesicht einen langen Moment lang, diesmal nicht als Ärztin, sondern als Frau, und der Mann vor ihr zog sie immer stärker an. Sie erwiderte seinen Blick mit weit geöffneten Augen, wartete unwillkürlich darauf, dass er weiter sprechen würde, dass er die Führung auch übernehmen würde, die sie ihm da so überraschend für sie selbst anbot. So etwas hatte sie noch nie getan, aber ihr war auch noch nie so ein Mann über den Weg gelaufen.

Herr Wagner hatte die Hände auf seinen Oberschenkeln liegen, um seinen Kopf senken und ihr in die Augen sehen zu können. Jetzt hob er eine Hand und streichelte sanft ihre Wange, wischte eine versteckt glänzende Träne aus ihrem Augenwinkel.

„Charlene, du musst dich ausruhen. Ich fahre dich nach Hause. Und wenn sie dich hier nicht gehen lassen wollen, hab ich das in zwei Minuten geregelt!“

Sie sah zu ihm empor. Eine zweite Träne wollte sich bilden und wurde von ihm sofort weggewischt. Er sagte nichts dazu, kein einziges falsches Wort, und sie ärgerte sich das erste Mal in ihrem Leben auch nicht darüber, dass ihr vor Erschöpfung die Tränen kamen. Sie warf einen Blick auf seinen Arm, er war neu und mit viel exklusiveren Materialien verbunden, als sie sie vor zwei Tagen noch verwendet hatte, er war abgeschwollen und Herr Wagner bewegte ihn schon, als hätte er dort niemals eine Verletzung gehabt. Er war nicht wegen seines Armes hier, schoss es ihr durch den Kopf, er war einzig und alleine ihretwegen hier! Diese Erkenntnis elektrisierte sie. Und noch mehr elektrisierte sie sein kurzer Nachsatz. Sie kannte nicht viele Menschen, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit von sich sagen konnten, dass sie in der Lage waren, sie hier heraus zu hauen. Sie selbst war diesem System ausgeliefert, sie gehörte ganz sicher auch nicht dazu. Aber gerade die Leichtigkeit, mit der er das sagte, machte seine Ankündigung so glaubhaft für sie. Entweder hatte er sich in der Zwischenzeit gut informiert, oder er besaß einen Zugang zu ihrer Führungsetage, den sie nicht besaß und auch gar nicht kannte.

„Ich bin Matt“, stellte er sich ihr noch einmal vor, diesmal eindeutig ihr als Frau und rein privat. Er beugte sich noch ein wenig weiter vor, wie um die Außenwelt um sie herum noch ein wenig mehr auszuschließen. Charlene nickte und lächelte ihn an. „Meinen Namen kennst du ja schon, Matt“, antwortete sie ihm nur. „Ich freue mich sehr!“

Normalerweise hätte sie jetzt wirklich etwas ganz anderes gesagt. Ihr Kopf sprang plötzlich wieder an, als sie ihre ganze normale Verhaltensweise mit dieser einen Antwort einfach über Bord warf.

‚Versuchs gar nicht erst‘, hätte sie einem Mann bei so einem Angebot sofort ohne Worte, mit kleinen optischen, nonverbalen Gesten signalisiert. ‚Zumindest nicht bei mir. Lass es doch einfach, okay? Das erspart uns beiden Zeit und Mühe. Ich suche keinen Mann, der mich aushält, heute nicht, und morgen ganz sicher auch nicht. Ja, ich bin eine ziemlich tolle Frau, das weiß ich auch. Das sagt man sich allgemein so, auch wenn ich selbst von mir denke, dass ich so toll nun auch wieder nicht bin. Ich bin einfach ein emotionaler, liebevoller und kreativer Geist mit ganz simplen Wünschen nach Liebe und Geborgenheit. Ich sehne mich nach konsequenter Führung, das ist wohl wahr, aber ich kann gut für mich selbst sorgen. Ich besitze ein Häuschen mit Garten und genügend zu Essen im Haus. Ich weiß, wie man genießt, und ich versuche, die ungetrübte Freude daran immer wieder und wieder erleben zu können, auch wenn mir das nur mehr recht als schlecht gelingt. Intelligenz ist bei mir merklich vorrätig, deswegen denke nach, bevor du jetzt etwas Dummes zu mir sagst! Mit mir ist viel möglich, wenn du es richtig anpackst. Ich lache und weine mit dir, ich kann mit dir schweigen und auch dann einig mit dir sein. Eigentlich kann man mit mir Pferde stehlen. Ich möchte manchmal einfach nur ein Mensch sein dürfen und das Leben auch einmal nicht so ernst nehmen dürfen. Ich weiß nicht, ob ich da vielleicht vom Leben zu viel erwarte, denn es ist absolut nicht selbstverständlich, dass ich in meinem Beruf als Chirurgin als Frau so erfolgreich bin, das ist eine Männerdomäne. Deswegen bin ich aber auch konsequent, wenn du nicht der Richtige für mich bist, dann werde ich bei meinem Nein bleiben, also fordere es nicht heraus, dass ich nein sage. Du musst dir schon zutrauen, mich auch erobern zu können. Think before you say something stupid! Ich kann über mich selbst lachen, wenn dir das nicht gelingt, dann geh in den Keller und bleib auch gerne dort! Ich liebe es, wenn mich jemand mit seiner Kommunikationsstärke und mit einem geistreichen, schrägen Humor zum Lachen bringt, das liebe ich mehr als alles andere. Und ich mag die nicht, die mir nach dem Mund reden und sich der Gesellschaft voll und ganz angepasst haben. Solche Menschen empfinde ich als schwach und langweilig, und mein Leben ist definitiv zu kurz, als dass ich es mir leisten könnte, mich zu langweilen! Und ich werde schon in so viel von meiner Lebenszeit dazu gezwungen, mich dem System anzupassen, dass ich es zum Kotzen finde, wenn du das nun auch noch tust. Wenn du mich allerdings nur bewundern möchtest, dann bist du mir willkommen, das tut mir gut, das sag ich dir ganz unverhohlen, viel zu wenige tun das, denn ich bin eine stille Heldin in meiner Arbeit. Also darfst du mir so etwas gerne sagen. Du darfst mir auch gerne etwas schenken, wobei es gerne auch hochwertige Geschenke sein dürfen, denn ich bin solche Geschenke durchaus wert, aber sein müssen sie nicht. Also lass dir lieber etwas einfallen, das mich bewegt! Ich bin im Übrigen verdammt gerne und sehr bewusst eine Frau, ein Weib, und ich fühle mich von der Männerwelt keineswegs unterdrückt. Manchmal wünsche ich mir ganz heimlich sogar eher, dass es zeitweilig so wäre, aber, ehrlich gesagt, würde ich mir eher die Zunge abbeißen als das zuzugeben. Schließlich habe ich hart um diese Freiheit gekämpft, und nur, wer so hart um etwas gekämpft hat, weiß es auch richtig zu schätzen. Und trotzdem stelle ich mir vor, genau das könnte das Schönste der Welt sein! Das Schönste für mein ganzes Leben! Mein Motto für mein Leben könnte so lauten: ‚laugh, love, relax‘, aber leider gelingt mir genau das nicht. Also bringe mich bitte nicht auch noch dazu, zu bereuen, dass ich dir meine Zeit geschenkt habe. Ja, meine Zeit ist ein Geschenk, denn ich hab nicht viel davon zu meiner freien Verfügung. Deswegen sage ich es dir mit M. Proust:  „Wir bereuen nur das, was wir nicht getan haben.“ Das ist ein weiteres feines Motto für mein Leben, und wenn du das alles verstanden hast, dann kennst du mich schon etwas besser. ‚

Charlene lächelte spitzbübisch, als sich diese Gedanken in ihrem Kopf plötzlich überschlugen, es war, als hätte sie auf jemanden wie Matt gewartet, um sie endlich freizulassen. Matts Lächeln wiederum vertiefte sich, als würde er gerade ihre Gedanken lesen. Wahrscheinlich hatte sie einfach die Kontrolle ihrer Gesichtszüge entgleisen lassen, die sie sonst immer so beherrscht ausübte, und er hatte ihre blitzenden Augen und ihr leichtes und freches Grinsen richtig gedeutet. Matt schien ihr keinesfalls auf der Suche nach einer Beziehung oder, noch schlimmer, auf einem Beutezug zu sein, er machte weder einen unausgelasteten noch einen suchenden Eindruck auf sie, und sie wusste, dass sie sich auf ihre Nase diesbezüglich verlassen konnte, auch wenn sie ansonsten ein wenig naiv war. Er hatte sie nicht in seinem Beuteschema erkannt, wenn er denn überhaupt eines hatte, und er handelte definitiv für sich selbst ungewöhnlich. Er war zufällig an sie geraten, mit einer echten Verletzung. Und doch, …. meinte er jetzt genau….sie.

„Mein Oberarzt hat mich gerade nach Hause geschickt….“, ihr Mund war schneller als ihr Verstand, sie hatte das ihm gegenüber gar nicht so deutlich abhängig ausdrücken wollen, aber Matt nickte schon.

„Dann nichts wie los! Hast du noch Sachen mitzunehmen, die nicht hierbleiben können?“

Charlene war diese Schnelligkeit in Entscheidungsfragen gewohnt, deswegen war ihr Bauch wieder schneller als ihr Verstand. „Ich muss mich nur noch umziehen….“, antwortete sie ihm unsicher, unsicher deswegen, weil sie durchaus auch in ihrer Bereichskleidung schon das Krankenhaus verlassen hatte, verbotenerweise. Natürlich war das nicht erlaubt. Matt erfasste auch das sofort.

„Okay, das kann also warten. Dann komm mit mir!“ Er stand auf und schob ihr die Hand in die Achselhöhle, half ihr kräftig auf. Kaum stand sie, erfasste sie Schwindel, sie hatte viel zu wenig getrunken und dieser plötzliche Stellungswechsel ließ ihren Blutdruck in den Keller gehen. Sie schwankte etwas gegen Matt, der ihre Bewegung nur abfing, ihren Oberarm fasste und sie kräftig stützte. Er kommentierte das nicht, führte sie aber schon zur Tür, während Charlene noch damit beschäftigt war, den Eindruck seiner harten Muskeln und seines gestählten Körpers zu verarbeiten. Er öffnete ihr zuvorkommend die Tür und ließ sie vor sich passieren, blieb dann auch einen halben Schritt schräg hinter ihr, als sie folgsam den Weg zur Hintertür einschlug. Frische Luft durchfuhr ihre müden Glieder wie ein Schlag, als sie die schwere Brandschutztür passierte. Unwillkürlich sah sie zum Himmel auf und atmete tief durch. Es war inzwischen stockdunkel, die Auffahrt für die RTWs war beleuchtet. Charlene führte Matt die Rampe hinunter, war sich seiner Anwesenheit hinter ihr nur allzu bewusst. Und er lenkte sie deutlich ab, so erfasste sie ein weiterer Schwindelanfall mit einem Sausen im Ohr, einem hohen Pfeifen, völlig unerwartet. Sie knickte mit einem Knöchel um und fiel, konnte aber nicht erschrecken, so schnell hatte Matt sie aufgefangen. Er schob ihr kommentarlos die Arme um den Rücken und unter die Kniekehlen und hob sie schwungvoll an seine Brust. Seine Arme um sie fühlten sich erregend und gleichzeitig so vertraut an, es war wunderschön und gleichzeitig so unaufgeregt für sie, dass sie dieses Gefühl erst gar nicht hinterfragen mochte.

Ein Gefühl von Sehnsucht machte sich in ihr breit. Sie fühlte sich wahrhaftig aufgefangen von diesem fremden Mann, der aber hielt, was er ihr versprach. Dieses Gefühl von Sicherheit kannte sie so gar nicht, das kostete sie einfach voll aus, so selten war es in ihrem Leben bisher gewesen. Sicherheit, ein Gefühl so prickelnd und belebend wie Sekt in einer Sektflöte. Charlene wusste sofort, Matt trug sie nicht nur, weil sie eben gefallen wäre ohne sein Eingreifen. Nein, er hatte ihr dieses Angebot gemacht, seitdem er da gewesen war heute, nur mit seiner Anwesenheit. Ihre Haut überzog ein elektrisierend kribbelndes Gefühl von Leichtigkeit ihrer Bewegungen, und sie hatte Andersens kleine Meerjungfrau vor ihrem inneren Auge, die eine Sehnsucht in sich trug, die sie nicht begreifen konnte. Charlene mochte eigentlich keine Märchen, aber auch sie trug so eine Sehnsucht in sich, die sie weder zuordnen noch verstehen konnte, und sie konnte auch niemanden danach fragen. Bis zu diesem heutigen Tag hatte sie niemanden danach fragen können, wurde ihr klar, hier und jetzt war jemand bei ihr, der ihr diese Frage vielleicht beantworten konnte, der sich ihr aber auf jeden Fall stellen würde.

Ihr Körper wurde weich und nachgiebig, überließ sich vertrauensvoll dem ungewohnten Gefühl des Getragen-Seins, das sie fast etwas schwindelig machte. Sie holte tief Luft und sah zu Matt auf, tief atmend, angestrengt. Sie hörte ihm mehr als dass sie ihn sah, sie sprachen nicht miteinander, er sah auch nicht auf sie herunter. Sie spürte seinen unnachgiebigen Unterarmverband, einen Scotchcastverband, in ihren Rücken drücken und erinnerte sich leicht benommen daran, dass er eigentlich einen geprellten Arm hatte. Wenn es ihm Schmerzen bereitete, sie so zu tragen, ließ er sich das nicht anmerken. Matt schlug eine ganz andere Richtung ein, die zu den gesperrten Sonder-Parkplätzen des Krankenhauses, seine energischen Schritte knirschten leicht auf dem glatten Steinboden. Dann verhielt er auf einmal, und direkt darauf hielt mit leise quietschenden Bremsen ein Fahrzeug hinter Charlene. Charlene sah sich nicht um, sie war nicht neugierig, sie wollte nur Matt weiter sehen können. Sie hörte einen Mann das Fahrzeug verlassen und es mit schnellen Schritten umrunden, dann öffnete er hinter ihr eine der Wagentüren. Matt bugsierte sie vorsichtig ins Innere des Wagens und setzte sie auf eine unglaublich komfortable Sitzbank aus kühlem Leder. Plötzlich war er wieder verschwunden und Charlene hielt still, als sie seine Hände erneut spürte, von der anderen Seite diesmal. Sie berührten ihre Schultern, warm, fest, dann schlang sich sein Arm um sie und ein leises Ächzen verriet ihr, dass er neben ihr Platz genommen hatte, noch bevor sie gegen ihn sacken konnte. Er zog die Tür aufatmend hinter sich zu, und der andere stieg vorne wieder ein.

***

©Matt