Zufällige Begegnung (Charlene), Teil 7

So erschien es ihr zumindest. Es war Wochenbeginn, Montag, und sie hatte heute Bereitschaftsdienst. Den absolvierte sie irgendwie wie im Traum, obwohl sie kaum schlafen konnte, quasi durcharbeitete. Am Dienstagnachmittag fiel sie dann völlig übermüdet in ihr Bett und schlief einfach tief und traumlos durch. Der Mittwoch versprach wieder ein Tanz mit klirrenden Ketten zu werden, und das bestätigte sich auch. Charlene kam kaum zum Luftholen. Gegen achtzehn Uhr wurde die Ambulanz für den normalen Verkehr für gewöhnlich geschlossen. Das hieß aber nicht, dass sie dann Feierabend hatte, die Eingänge zogen sich immer noch hin. Und an diesem Tag war Herr Wagner um 17:30 wieder da.

Charlene war zu diesem Zeitpunkt schon völlig erschöpft von dem Marathon, der ihr in dieser ersten Hälfte ihrer Arbeitswoche bereits alles abverlangt hatte, was sie an Kräften aufbringen konnte. Aber als sie Herrn Wagner die hintere Tür so selbstverständlich hereinkommen sah, wie jedes ihrer Teammitglieder das getan hätte, hatte sie schlagartig den Blick seiner tiefblauen Augen wieder vor sich, seinen Blick, der auf ihr selbst geruht hatte. Sie war gerade auf dem Weg zu einem herein gekommenen Notfall, aber sie bog fast wie ferngesteuert in seine Richtung ab und eilte zu ihm, noch bevor eine der Schwestern das tun konnte. Das war durchaus nicht ungewöhnlich für ihre Schwestern, sie kannten das alle von ihr, dass sie durchaus auch mal ihre pflegerischen Aufgaben übernahm, so wie auch die Schwestern durchaus einmal ärztliche Tätigkeiten für sie versahen. Eine besondere Handlung war das nur für Charlene selbst.

Sie griff Herrn Wagner mit einem raschen, wortlosen Gruß am Ellbogen und führte ihn in eine der freien Behandlungskabinen, und dieser faszinierende Mann vor ihr verstand sie sofort und kam unauffällig und wortlos mit ihr. In der Kabine bat sie ihm noch immer gehetzt und wortlos, Platz zu nehmen und verließ ihn sofort wieder. Sie dachte nicht darüber nach, warum sie mit diesem stummen Einverständnis und der klugen Reaktion von ihm überhaupt rechnete, sie handelte einfach, sie konnte gar nicht anders. Sie hatte ihn in einem freien Eckchen in dieser Ambulanz und in ihrer knapp bemessenen Zeit erfolgreich untergebracht, und mehr zählte in diesem Augenblick für sie nicht.

Sie stieß zu dem Notfall dazu, einem schwer verunfallten Mann in den Fünfzigern, ein angekündigter Autounfall mit mehreren Beteiligten. Einer ihrer jüngeren Kollegen war bereits dort und legte dem Mann eine Braunüle, zwei Schwestern hatten sich eingefunden und erhoben gerade die Vitalwerte. Im Raum herrschte eine ruhige und lockere Stimmung, sie selbst als Profi fühlte aber die untergründige Spannung. Der Mann konnte lebensgefährlich verletzt sein, und wenn er das war, dann war jede einzelne Minute, die verrann, kostbar. Der Mann war bei vollem Bewusstsein und orientiert, ihr Kollege führte bereits eine erste, sondierende Befragung durch. Charlene stellte sich ihm rasch vor und bat ihn um die Erlaubnis, ihn körperlich untersuchen zu dürfen, begann damit aber schon, während er ihr noch zunickte in der vorauseilenden Gewissheit, dass er so reagieren würde. Schließlich würde er leben wollen.

Sie auskultierte seine Lungen und fand bestätigt, was sie an seiner mühsamen Atmung schon hatte ablesen können: Das Atemgeräusch seiner Lungen war auf einer Seite deutlich abgeschwächt. Der Mann hatte schon leicht zyanotisch blaue Lippen, eine Sauerstoffsättigung von unter neunzig Prozent, wie ihr schon die charakteristische Klangfarbe des Pfeiftons des Pulsoxymeters verriet, und einen sehr schnellen Herzschlag. Sie musste erst gar nicht auf das EKG sehen, das mitlief, das rhythmische Pfeifen des Oxymeters verriet ihr auch das. Der junge Kollege, der immer noch Blut abnahm, hatte das alles noch gar nicht erfasst, aber hier und jetzt war keine Zeit für eine Ausbildung, der Patient war lebensbedrohlich verletzt.

Charlene war eine erfahrene Chirurgin und eine Frau der Tat. Sie bat den jungen Kollegen, den Mann im Bett sicher aufzusetzen, während sie dem Patienten schon wortlos kurz den Rücken zuwandte, bereits eine Einerkanüle aus dem Fach holte, einen Finger eines gewöhnlichen Hygienehandschuhs abschnitt und ihn rund um den gelben Konus der dünnen Nadel sicher befestigte. Der Patient sah ihr vertrauensvoll in die Augen, als sie wieder an sein Bett trat, die präparierte Nadel und eine Flasche mit Desinfektionsmittel in der Hand. Sie nickte ihm nur zu, neben seiner rechten Schulter stehend.

„Ich werde Ihnen einmal kurz wehtun müssen“, sprach sie den Patienten an. „Meinen Sie, dass Sie ruhig halten können?“ Der Mann sah ihr in die Augen, die Verbindung zwischen ihnen stand. Er nickte nur, verzichtete auf gesprochene Worte, Charlene wusste, er brauchte seine Luft dringender zum Atmen. Sie hob den rechten Arm des Patienten erst in die Waagerechte, und als der Patient ihrer Führung willig folgte, hob sie seinen Arm über seinen Kopf.

„Halten Sie“, bat sie den Kollegen nur. Der griff die Hand des Patienten und riss die Augen auf, was der Patient selber glücklicherweise nicht sah. Jetzt begriff er erst, welche Diagnose sie gestellt hatte und was sie nun zu tun im Begriff war. Der Patient hatte höchstwahrscheinlich eine gebrochene Rippe, das wusste Charlene nicht so genau, aber irgendetwas hatte seine Lunge von innen verletzt. Im Thorax herrschte Unterdruck, und durch diese innere Verletzung der äußeren Haut der Lunge trat bei jedem Atemzug des Mannes etwas Luft in den Thorax zwischen Lunge und Rippenfell, wo sie nicht hin gehörte. Dort war sie gefangen und presste sowohl den Lungenflügel von außen zusammen wie auch das Herz des Patienten zur anderen Seite, und dieser Zustand wurde mit jedem mühsamen Atemzug des Patienten schlimmer. Charlene tastete nach der letzten, der untersten Rippe des Brustkorbs des Patienten und auskultierte etwas darüber und in gerader Linie unter der Achselhöhle noch einmal. Ihre Diagnose bestätigte sich, hier war das Atemgeräusch so weit abgeschwächt, dass es kaum noch hörbar war.

Sie desinfizierte den Bereich großzügig, informierte den Patienten dabei ruhig über diese Handlung. Er nickte nur. Dann tastete sie nach der zweitletzten Rippe, ging hoch zur drittletzten und drückte mit ihrem Zeigefinger als Führung direkt unter diese Rippe. Die Rippe zeichnete sich deutlich ab, der Mann war schlank, was ihr ihr jetziges Vorhaben sehr erleichterte. Sie setzte die Nadel direkt unter der Rippe an, stach in direkter Linie unter der Achselhöhle auf die Rippe und rutschte dann mit der Nadelspitze am Unterrand der Rippe herum und stach so direkt unter der Rippe mit Druck energisch tiefer. Der Wiederstand, den ihrer Nadel das lebende Gewebe entgegen setzte, wurde erwartungsgemäß für einen Moment stärker, dann ließ er schlagartig nach. Sofort blähte sich der Fingerling mit Luft auf wie von Zauberhand. Charlene nickte nur, griff nach einer Schere und schnitt am Ende des Fingerlings ein kleines Loch in das PVC-Gewebe. Sofort pfiff die Luft mit Druck hinaus, dann atmete der Mann ein und der Fingerling knautschte zusammen, bis er jede Luft verloren hatte. Der Mann atmete aus, und wieder pfiff die Luft unter Druck aus dem sich schlagartig aufblähenden Fingerling.  Charlene hatte ein sehr einfaches, aber ebenso wirksam arbeitendes Ventil geschaffen, die Atemluft konnte trotz innerer Verletzung der Lunge bei der Exspiration des Patienten nach außen entweichen, und bei der Inspiration kam keine zusätzliche Luft mehr in diesen Raum. Der Erfolg dieser Maßnahme war immer dramatisch, sofort holte der Patient befreiter Luft und seine hektische Atmung wurde ruhiger.

Charlene richtete sich müde auf. So einfach die Maßnahme auch war, sie hatte sie alle Kraft gekostet, die sie hatte, denn sie durfte dabei keinen Fehler begehen. Sie hatte hochkonzentriert gearbeitet, um dem Patienten das Luftholen zu ermöglichen, bevor er in eine lebensbedrohliche Situation kommen würde. Dementsprechend hatte sie wohl die Ruhe in der Behandlungskabine wahrgenommen, nicht aber, dass ihr Oberarzt, Herr Reisinger, den Raum betrete hatte. Sie suchte die leicht umflorten Augen des Patienten, die sich bereits klärten, als er tief durchatmete und noch gar nicht richtig begriff, was überhaupt geschehen war. Sie lächelte ihn an und zuckte dann zusammen, als Herr Reisinger sie mit seiner ruhigen Stimme ansprach.

„Gute Arbeit, Charlene“, lobte er sie mit leiser Stimme, was er selten so deutlich tat, und machte dann eine kurze Sprechpause, um ihr die Gelegenheit zu geben, sich wieder fassen zu können. „Aber was machst du so spät noch hier, Kind? Solltest du nicht längst zu Hause sein?“

Charlene lächelte. Sie war Ende dreißig, hatte ihren Facharzt in Chirurgie bereits absolviert, aber ihr liebster Oberarzt hatte bereits die fünfzig passiert und ließ sie gerne wissen, dass er immer noch über sie wachte, wie er das schon immer getan hatte, seitdem sie hier arbeitete. Von da her konnte sie sich wahrhaftig nicht beschweren. Sie nickte nur.

„Ich übernehme, Charlie“, sprach er dann weiter, „und du siehst zu, dass du hier Land gewinnst!“

„Ich muss nur noch einen Patienten versorgen“, antwortete sie ihm wie in einem Traum, denn die Erschöpfung übermannte sie in diesem Augenblick fast. Herr Reisinger, Wolfgang, sah ihr prüfend in die Augen. „Gut“, gab er sein Einverständnis, „irgendetwas Besonderes bei diesem letzten Patienten von dir?“

Charlene schüttelte rasch den Kopf, wieder, bevor sie überhaupt zum Denken kam. Ihr Kopf führte in diesem Moment eindeutig ein Eigenleben, das sie gar nicht mehr so recht mit bekam. „Nein, Wolfgang, dank dir. Das ist nur noch eine Routineuntersuchung.“

„Gut, dann mach, dass du hier heraus kommst!“, wies Wolfgang sie erneut burschikos an und ließ sie damit wortlos wissen, dass ihm ihre Erschöpfung deutlich aufgefallen war. Und dass er mit ihr und ihrer Arbeit zufrieden war. Charlene durchflutete kurz ein entspannendes Gefühl, es tat gut, nach getaner Arbeit so gelobt zu werden. Sie lächelte Wolfgang in die braunen Augen, der lächelte zurück und nickte. Sie selbst nickte ihrerseits dem Patienten verabschiedend zu und verließ dann rasch den Raum. Sie wusste, sie musste rasch weg hier, aus dem Krankenhaus, sonst würde der nächste Notfall nicht lange auf sich warten lassen und ihr den Rest geben. Und trotzdem lenkten sie ihre Schritte wieder fast wie ferngesteuert zu der Kabine, wo Herr Wagner noch auf sie warten musste.

***

Er stand auf, als sie den Raum betrat, und rückte ihr wortlos seinen Stuhl zurecht, auf dem er gerade noch gesessen hatte. Und sie setzte sich wie selbstverständlich hin. Die Müdigkeit machte sich plötzlich Raum in ihr, sie wusste kaum, wie ihr war, aber ihre Glieder wurden schwer, sie ließ sich zurück sinken, bis ihr Rücken fest an die Rücklehne des Stuhls gepresst lag. Ihre Augen wurden feucht. Noch niemals hatte sie sich vor einem Patienten derart gehen lassen, wirklich noch nie. Und noch nie hatte sie sich derart wenig darum geschert. Sie ließ ihren Kopf für einen Moment sinken, richtete ihren Blick ins Leere.

„Charlene“, sprach sie ihr Patient vor ihr plötzlich an.

Ihr Kopf ruckte nach oben und sie begegnete mit ihren grün-glänzenden Augen seinem tiefblauen Blick. Und in diesem Moment drehte sich die Welt. Sie konnte bis heute nicht sagen, wie das gekommen war, was da in ihr abgegangen war, aber sie sah plötzlich nur noch den Mann vor sich und nicht mehr den Patienten. Als hätte er sich komplett verändert. Sie sah ihn an, als hätte sie ihn noch nie gesehen. Die Art, wie er vor ihr auf der Untersuchungsliege saß, leicht vorgebeugt, sein besorgter Ausdruck im Gesicht. Besorgt um sie. Seine ganze Körperhaltung drückte diese Besorgnis aus, aber sie drückte noch viel mehr aus. Er besaß etwas, das sie nicht benennen konnte und das sie wie magnetisch anzog. War es die wie selbstverständlich wirkende Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, oder die untergründige Aura von mentaler und physischer Stärke, die ihn umgab? Charlene hatte den Eindruck, der Mann vor ihr wusste ganz genau, was er tat, und warum er das tat, und er zweifelte nicht im Geringsten an sich selbst. Und sein Blick drückte einen ganz selbstverständlichen Führungsanspruch aus, es wäre gegen ihre eigene weibliche Natur gewesen, ihm nicht zu folgen. Er nahm jetzt auch völlig folgerichtig für sie die Position ihr gegenüber ein, die sie ihm gegenüber eingenommen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Der Stärkere führte, dieses Prinzip war Charlene nur allzu geläufig, aber auf ihrer Arbeit gab es echte Macht, die auf Geld und gesellschaftlichem Einfluss nur mittelbar beruhte. Hier führte der erfahrenste Arzt im Idealfall durch  informelle Führung durch Fachwissen, denn hier ging es um das Leben und die Unversehrtheit von Menschen, Es ging weniger die Führung, die ein Mann übernahm, weil er eben ein richtiger Mann war. Für Charlene war das völlig klar und offensichtlich, und jetzt hatte Herr Wagner die Führung völlig unspektakulär übernommen. Charlene konnte sehr schnell umschalten, deswegen reagierte sie sofort, obwohl ihr diese Situation vollkommen neu war.

Sie musterte ihn verwirrt, als hätte er sich gerade eben vor ihr aus der Luft materialisiert, so verändert war der ganze Raum um sie herum. Als befände sie sich nicht mehr in ihrem Arztkittel, nicht mehr im Krankenhaus, nicht mehr auf der Arbeit, gar nicht mehr in ihrem Leben. Sie zwinkerte überrascht. Aber er lächelte ihr nur in die Augen, als wäre ihm auch das klar, als würde er den Grund für ihre offensichtliche Verwirrung nur allzu gut verstehen können. Sie studierte sein offenes Gesicht einen langen Moment lang, diesmal nicht als Ärztin, sondern als Frau, und der Mann vor ihr zog sie immer stärker an. Sie erwiderte seinen Blick mit weit geöffneten Augen, wartete unwillkürlich darauf, dass er weiter sprechen würde, dass er die Führung auch übernehmen würde, die sie ihm da so überraschend für sie selbst anbot. So etwas hatte sie noch nie getan, aber ihr war auch noch nie so ein Mann über den Weg gelaufen.

Herr Wagner hatte die Hände auf seinen Oberschenkeln liegen, um seinen Kopf senken und ihr in die Augen sehen zu können. Jetzt hob er eine Hand und streichelte sanft ihre Wange, wischte eine versteckt glänzende Träne aus ihrem Augenwinkel.

„Charlene, du musst dich ausruhen. Ich fahre dich nach Hause. Und wenn sie dich hier nicht gehen lassen wollen, hab ich das in zwei Minuten geregelt!“

Sie sah zu ihm empor. Eine zweite Träne wollte sich bilden und wurde von ihm sofort weggewischt. Er sagte nichts dazu, kein einziges falsches Wort, und sie ärgerte sich das erste Mal in ihrem Leben auch nicht darüber, dass ihr vor Erschöpfung die Tränen kamen. Sie warf einen Blick auf seinen Arm, er war neu und mit viel exklusiveren Materialien verbunden, als sie sie vor zwei Tagen noch verwendet hatte, er war abgeschwollen und Herr Wagner bewegte ihn schon, als hätte er dort niemals eine Verletzung gehabt. Er war nicht wegen seines Armes hier, schoss es ihr durch den Kopf, er war einzig und alleine ihretwegen hier! Diese Erkenntnis elektrisierte sie. Und noch mehr elektrisierte sie sein kurzer Nachsatz. Sie kannte nicht viele Menschen, die mit einer solchen Selbstverständlichkeit von sich sagen konnten, dass sie in der Lage waren, sie hier heraus zu hauen. Sie selbst war diesem System ausgeliefert, sie gehörte ganz sicher auch nicht dazu. Aber gerade die Leichtigkeit, mit der er das sagte, machte seine Ankündigung so glaubhaft für sie. Entweder hatte er sich in der Zwischenzeit gut informiert, oder er besaß einen Zugang zu ihrer Führungsetage, den sie nicht besaß und auch gar nicht kannte.

„Ich bin Matt“, stellte er sich ihr noch einmal vor, diesmal eindeutig ihr als Frau und rein privat. Er beugte sich noch ein wenig weiter vor, wie um die Außenwelt um sie herum noch ein wenig mehr auszuschließen. Charlene nickte und lächelte ihn an. „Meinen Namen kennst du ja schon, Matt“, antwortete sie ihm nur. „Ich freue mich sehr!“

Normalerweise hätte sie jetzt wirklich etwas ganz anderes gesagt. Ihr Kopf sprang plötzlich wieder an, als sie ihre ganze normale Verhaltensweise mit dieser einen Antwort einfach über Bord warf.

‚Versuchs gar nicht erst‘, hätte sie einem Mann bei so einem Angebot sofort ohne Worte, mit kleinen optischen, nonverbalen Gesten signalisiert. ‚Zumindest nicht bei mir. Lass es doch einfach, okay? Das erspart uns beiden Zeit und Mühe. Ich suche keinen Mann, der mich aushält, heute nicht, und morgen ganz sicher auch nicht. Ja, ich bin eine ziemlich tolle Frau, das weiß ich auch. Das sagt man sich allgemein so, auch wenn ich selbst von mir denke, dass ich so toll nun auch wieder nicht bin. Ich bin einfach ein emotionaler, liebevoller und kreativer Geist mit ganz simplen Wünschen nach Liebe und Geborgenheit. Ich sehne mich nach konsequenter Führung, das ist wohl wahr, aber ich kann gut für mich selbst sorgen. Ich besitze ein Häuschen mit Garten und genügend zu Essen im Haus. Ich weiß, wie man genießt, und ich versuche, die ungetrübte Freude daran immer wieder und wieder erleben zu können, auch wenn mir das nur mehr recht als schlecht gelingt. Intelligenz ist bei mir merklich vorrätig, deswegen denke nach, bevor du jetzt etwas Dummes zu mir sagst! Mit mir ist viel möglich, wenn du es richtig anpackst. Ich lache und weine mit dir, ich kann mit dir schweigen und auch dann einig mit dir sein. Eigentlich kann man mit mir Pferde stehlen. Ich möchte manchmal einfach nur ein Mensch sein dürfen und das Leben auch einmal nicht so ernst nehmen dürfen. Ich weiß nicht, ob ich da vielleicht vom Leben zu viel erwarte, denn es ist absolut nicht selbstverständlich, dass ich in meinem Beruf als Chirurgin als Frau so erfolgreich bin, das ist eine Männerdomäne. Deswegen bin ich aber auch konsequent, wenn du nicht der Richtige für mich bist, dann werde ich bei meinem Nein bleiben, also fordere es nicht heraus, dass ich nein sage. Du musst dir schon zutrauen, mich auch erobern zu können. Think before you say something stupid! Ich kann über mich selbst lachen, wenn dir das nicht gelingt, dann geh in den Keller und bleib auch gerne dort! Ich liebe es, wenn mich jemand mit seiner Kommunikationsstärke und mit einem geistreichen, schrägen Humor zum Lachen bringt, das liebe ich mehr als alles andere. Und ich mag die nicht, die mir nach dem Mund reden und sich der Gesellschaft voll und ganz angepasst haben. Solche Menschen empfinde ich als schwach und langweilig, und mein Leben ist definitiv zu kurz, als dass ich es mir leisten könnte, mich zu langweilen! Und ich werde schon in so viel von meiner Lebenszeit dazu gezwungen, mich dem System anzupassen, dass ich es zum Kotzen finde, wenn du das nun auch noch tust. Wenn du mich allerdings nur bewundern möchtest, dann bist du mir willkommen, das tut mir gut, das sag ich dir ganz unverhohlen, viel zu wenige tun das, denn ich bin eine stille Heldin in meiner Arbeit. Also darfst du mir so etwas gerne sagen. Du darfst mir auch gerne etwas schenken, wobei es gerne auch hochwertige Geschenke sein dürfen, denn ich bin solche Geschenke durchaus wert, aber sein müssen sie nicht. Also lass dir lieber etwas einfallen, das mich bewegt! Ich bin im Übrigen verdammt gerne und sehr bewusst eine Frau, ein Weib, und ich fühle mich von der Männerwelt keineswegs unterdrückt. Manchmal wünsche ich mir ganz heimlich sogar eher, dass es zeitweilig so wäre, aber, ehrlich gesagt, würde ich mir eher die Zunge abbeißen als das zuzugeben. Schließlich habe ich hart um diese Freiheit gekämpft, und nur, wer so hart um etwas gekämpft hat, weiß es auch richtig zu schätzen. Und trotzdem stelle ich mir vor, genau das könnte das Schönste der Welt sein! Das Schönste für mein ganzes Leben! Mein Motto für mein Leben könnte so lauten: ‚laugh, love, relax‘, aber leider gelingt mir genau das nicht. Also bringe mich bitte nicht auch noch dazu, zu bereuen, dass ich dir meine Zeit geschenkt habe. Ja, meine Zeit ist ein Geschenk, denn ich hab nicht viel davon zu meiner freien Verfügung. Deswegen sage ich es dir mit M. Proust:  „Wir bereuen nur das, was wir nicht getan haben.“ Das ist ein weiteres feines Motto für mein Leben, und wenn du das alles verstanden hast, dann kennst du mich schon etwas besser. ‚

Charlene lächelte spitzbübisch, als sich diese Gedanken in ihrem Kopf plötzlich überschlugen, es war, als hätte sie auf jemanden wie Matt gewartet, um sie endlich freizulassen. Matts Lächeln wiederum vertiefte sich, als würde er gerade ihre Gedanken lesen. Wahrscheinlich hatte sie einfach die Kontrolle ihrer Gesichtszüge entgleisen lassen, die sie sonst immer so beherrscht ausübte, und er hatte ihre blitzenden Augen und ihr leichtes und freches Grinsen richtig gedeutet. Matt schien ihr keinesfalls auf der Suche nach einer Beziehung oder, noch schlimmer, auf einem Beutezug zu sein, er machte weder einen unausgelasteten noch einen suchenden Eindruck auf sie, und sie wusste, dass sie sich auf ihre Nase diesbezüglich verlassen konnte, auch wenn sie ansonsten ein wenig naiv war. Er hatte sie nicht in seinem Beuteschema erkannt, wenn er denn überhaupt eines hatte, und er handelte definitiv für sich selbst ungewöhnlich. Er war zufällig an sie geraten, mit einer echten Verletzung. Und doch, …. meinte er jetzt genau….sie.

„Mein Oberarzt hat mich gerade nach Hause geschickt….“, ihr Mund war schneller als ihr Verstand, sie hatte das ihm gegenüber gar nicht so deutlich abhängig ausdrücken wollen, aber Matt nickte schon.

„Dann nichts wie los! Hast du noch Sachen mitzunehmen, die nicht hierbleiben können?“

Charlene war diese Schnelligkeit in Entscheidungsfragen gewohnt, deswegen war ihr Bauch wieder schneller als ihr Verstand. „Ich muss mich nur noch umziehen….“, antwortete sie ihm unsicher, unsicher deswegen, weil sie durchaus auch in ihrer Bereichskleidung schon das Krankenhaus verlassen hatte, verbotenerweise. Natürlich war das nicht erlaubt. Matt erfasste auch das sofort.

„Okay, das kann also warten. Dann komm mit mir!“ Er stand auf und schob ihr die Hand in die Achselhöhle, half ihr kräftig auf. Kaum stand sie, erfasste sie Schwindel, sie hatte viel zu wenig getrunken und dieser plötzliche Stellungswechsel ließ ihren Blutdruck in den Keller gehen. Sie schwankte etwas gegen Matt, der ihre Bewegung nur abfing, ihren Oberarm fasste und sie kräftig stützte. Er kommentierte das nicht, führte sie aber schon zur Tür, während Charlene noch damit beschäftigt war, den Eindruck seiner harten Muskeln und seines gestählten Körpers zu verarbeiten. Er öffnete ihr zuvorkommend die Tür und ließ sie vor sich passieren, blieb dann auch einen halben Schritt schräg hinter ihr, als sie folgsam den Weg zur Hintertür einschlug. Frische Luft durchfuhr ihre müden Glieder wie ein Schlag, als sie die schwere Brandschutztür passierte. Unwillkürlich sah sie zum Himmel auf und atmete tief durch. Es war inzwischen stockdunkel, die Auffahrt für die RTWs war beleuchtet. Charlene führte Matt die Rampe hinunter, war sich seiner Anwesenheit hinter ihr nur allzu bewusst. Und er lenkte sie deutlich ab, so erfasste sie ein weiterer Schwindelanfall mit einem Sausen im Ohr, einem hohen Pfeifen, völlig unerwartet. Sie knickte mit einem Knöchel um und fiel, konnte aber nicht erschrecken, so schnell hatte Matt sie aufgefangen. Er schob ihr kommentarlos die Arme um den Rücken und unter die Kniekehlen und hob sie schwungvoll an seine Brust. Seine Arme um sie fühlten sich erregend und gleichzeitig so vertraut an, es war wunderschön und gleichzeitig so unaufgeregt für sie, dass sie dieses Gefühl erst gar nicht hinterfragen mochte.

Ein Gefühl von Sehnsucht machte sich in ihr breit. Sie fühlte sich wahrhaftig aufgefangen von diesem fremden Mann, der aber hielt, was er ihr versprach. Dieses Gefühl von Sicherheit kannte sie so gar nicht, das kostete sie einfach voll aus, so selten war es in ihrem Leben bisher gewesen. Sicherheit, ein Gefühl so prickelnd und belebend wie Sekt in einer Sektflöte. Charlene wusste sofort, Matt trug sie nicht nur, weil sie eben gefallen wäre ohne sein Eingreifen. Nein, er hatte ihr dieses Angebot gemacht, seitdem er da gewesen war heute, nur mit seiner Anwesenheit. Ihre Haut überzog ein elektrisierend kribbelndes Gefühl von Leichtigkeit ihrer Bewegungen, und sie hatte Andersens kleine Meerjungfrau vor ihrem inneren Auge, die eine Sehnsucht in sich trug, die sie nicht begreifen konnte. Charlene mochte eigentlich keine Märchen, aber auch sie trug so eine Sehnsucht in sich, die sie weder zuordnen noch verstehen konnte, und sie konnte auch niemanden danach fragen. Bis zu diesem heutigen Tag hatte sie niemanden danach fragen können, wurde ihr klar, hier und jetzt war jemand bei ihr, der ihr diese Frage vielleicht beantworten konnte, der sich ihr aber auf jeden Fall stellen würde.

Ihr Körper wurde weich und nachgiebig, überließ sich vertrauensvoll dem ungewohnten Gefühl des Getragen-Seins, das sie fast etwas schwindelig machte. Sie holte tief Luft und sah zu Matt auf, tief atmend, angestrengt. Sie hörte ihm mehr als dass sie ihn sah, sie sprachen nicht miteinander, er sah auch nicht auf sie herunter. Sie spürte seinen unnachgiebigen Unterarmverband, einen Scotchcastverband, in ihren Rücken drücken und erinnerte sich leicht benommen daran, dass er eigentlich einen geprellten Arm hatte. Wenn es ihm Schmerzen bereitete, sie so zu tragen, ließ er sich das nicht anmerken. Matt schlug eine ganz andere Richtung ein, die zu den gesperrten Sonder-Parkplätzen des Krankenhauses, seine energischen Schritte knirschten leicht auf dem glatten Steinboden. Dann verhielt er auf einmal, und direkt darauf hielt mit leise quietschenden Bremsen ein Fahrzeug hinter Charlene. Charlene sah sich nicht um, sie war nicht neugierig, sie wollte nur Matt weiter sehen können. Sie hörte einen Mann das Fahrzeug verlassen und es mit schnellen Schritten umrunden, dann öffnete er hinter ihr eine der Wagentüren. Matt bugsierte sie vorsichtig ins Innere des Wagens und setzte sie auf eine unglaublich komfortable Sitzbank aus kühlem Leder. Plötzlich war er wieder verschwunden und Charlene hielt still, als sie seine Hände erneut spürte, von der anderen Seite diesmal. Sie berührten ihre Schultern, warm, fest, dann schlang sich sein Arm um sie und ein leises Ächzen verriet ihr, dass er neben ihr Platz genommen hatte, noch bevor sie gegen ihn sacken konnte. Er zog die Tür aufatmend hinter sich zu, und der andere stieg vorne wieder ein.

***

©Matt

Zufällige Begegnung (Charlene), Teil 6

Zwei völlig verschiedene Frauen, zwei völlig verschiedene Möglichkeiten, sich zu begegnen. Matt ist Charlene ebenso zufällig begegnet wie Julia. Julia ist nun für ein paar Tage oder Wochen bei Charlene eingezogen, um über ihr Trauma hinweg zu kommen. Aber diese zweite zufällige Begegnung, die lief sowohl für Matt wie für Charlene völlig anders ab, damals vor ungefähr vier Jahren…

***

Als Matt Charlene das erste Mal anrief, war sein Timing perfekt wie eigentlich immer, keine fünf Minuten später wäre er bei ihr gewesen. Charlene war lebenserfahren genug und liebte Matt auch einfach viel zu sehr, um ihm jetzt irgendetwas zu unterstellen. Matt hatte sie noch nie belogen, und wenn er ihr sagte, dass ihm etwas dazwischen gekommen wäre, dann musste das etwas Ernstes sein, und dann wartete sie auch gerne auf ihn. Und Matt war auch immer sehr achtsam mit ihr umgegangen, er blieb nicht einfach weg, weil ihm irgendetwas anderes durch den Kopf geschossen war in der Zwischenzeit. Charlene vertraute ihm blind, und sie wusste, dass sie das auch tun konnte und durfte. Also hieß es für sie nun warten. Sie stellte den Champagner wieder kalt und das Essen warm, dann setzte sie sich auf die breite Fensterbank ihres Eßzimmers und sah hinaus auf die Straße. Ihre Gedanken wanderten zurück, sie ließ ihr Handy griffbereit auf ihren Schoß sinken.

Sie hasste ihr Handy eigentlich. Auch jetzt, nach knapp vier Jahren ihrer Beziehung zu Matt, hatte sie kein zweites. Es war witzlos für sie, zwischen einer privaten und einer beruflichen Nummer unterscheiden zu wollen. Sie arbeitete als Funktionsoberärztin in der Allgemeinchirurgie in einem großen Kreiskrankenhaus, und diese Arbeit ließ ihr nicht viel privaten Spielraum. Und das war noch stark untertrieben. Charlene hatte so lange Arbeitszeiten und wurde darin so gefordert, dass sie sich in ihrer Freizeit eigentlich nur ausruhen und auf dem Sofa oder im Bett einnicken konnte, zusammen mit ihrer geliebten Katze Cora, ihrer Seelengefährtin, wie sie oft dachte. Mit genau siebenunddreißig Jahren war ihre langjährige Beziehung zu Werner in die Brüche gegangen, und das lag auch zu einem nicht unerheblichen Teil an ihrer Berufung. Das, was sie tat, konnte man nicht tun, wenn man nicht so fühlte, und genau das hatte Werner ihr auch vorgeworfen, dass sie ihre Arbeit über die Beziehung zu ihm stellen würde. Charlene war diesem Vorwurf gegenüber hilflos gewesen, denn sie konnte nicht so einfach aussteigen, nicht so, wie Werner sich das damals dachte. Dass das so nicht stimmte, das machte ihr erst Matt später klar. Aber wie dem auch war, sie verlor damit ihren engen Freundeskreis und war privat bald völlig isoliert. Und im Krankenhaus kannte sie dagegen inzwischen bald hundertfünfzig Menschen und war mit vielen auch näher befreundet. Also kam für sie jeder Anruf aus dem Krankenhaus, war es nun ein Dienstanruf, der sie zu einem Notfall rief, oder eine Freundin. Wobei Freundin oder Freund den Charakter dieser Beziehungen nicht traf, auch das war ihr immer bewußt. Würde sie morgen die Klinik verlassen, dann hätte sie allerspätestens nach ein paar Wochen auch die engsten Kontakte verloren.

Sie zuckte jedes Mal zusammen, wenn ihr Handy klingelte, denn der Grund der Anrufe waren weit mehr Notfälle außerhalb der Dienstzeit als der von Freunden oder Freundinnen. Wenn sie dann hörte, was vorlag, ging kurz eine warme Welle der Angst durch ihren ganzen Körper, jedes verdammte einzelne Mal. Sie hatte nun schon so viel Erfahrung, aber diese unwillkürliche Reaktion blieb ihr. Danach übernahm die Routine, sie fuhr mit einer stark unterdrückten Angst in die Klinik und atmete erst auf, wenn die Operation gelungen oder der Patient auf der chirurgischen Intensivstation nicht mehr in Gefahr schwebte. Dann schlug diese beherrschte Angst in ihr in Euphorie um, was eigentlich hätte schön für sie sein können, aber meist war sie danach so müde, dass sie auch das nicht mehr aufheitern konnte. Wo sie auch war, ihr Handy war immer in der Nähe, und wenn es klingelte, hatte sie stramm zu stehen und da zu sein. Deswegen hatte sie einen sehr guten Grund, es zu hassen. Und dennoch war sie jetzt froh, dass es bei ihr auf dem Schoß lag, denn jetzt würde Matt jeden Moment anrufen, und darauf freute sie sich mit einer ganz tiefen, hingebungsvollen Sehnsucht nach seiner Gegenwart. Mit Matt hatten viele Dinge für sie ihren Schrecken verloren.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, es sich auf dem breiten Fensterbrett bequem zu machen, wenn sie auf ihn wartete. Das war inzwischen zu einer festen Institution zwischen ihnen beiden geworden, wenn Matt sie oben nicht sitzen sah, rief er sie sofort an, oder es rief eben derjenige an, der statt seiner dann vorbeifuhr. Sie lächelte leise vor sich hin. Cora kam zu ihr, legte sich auf das Handy in ihren Schoß. Sie streichelte das seidige schwarze Fell ihrer Katze. Mit Matt war ihr Leben ungewöhnlich geworden, sie hatte sich anfangs mit ihm zusammen an sehr vieles gewöhnen müssen. Jetzt hatte sie schon das Gefühl, ohne ihn nicht mehr leben zu können. Ihre Gedanken wanderten leicht und beschwingt zurück in die Vergangenheit.

***

An dem Tag, an dem sie Matt vor jetzt etwas mehr als vier Jahren das erste Mal begegnete, war sie als erfahrende Assistenzärztin in der chirurgischen Ambulanz eingeteilt gewesen, und das überwiegend alleine. Zwei Kollegen hatten sich krank gemeldet, und das Krankenhaus hatte keine Mittel für einen Ersatz irgendeiner Art. Also mussten die anwesenden Kollegen mehr arbeiten, so lange und so schnell, bis die Arbeit eben getan war, und wenn das erst am nächsten Morgen oder Mittag der Fall war. Sie schuftete also ohne Pause, überwiegend ohne ihren zweiten Kollegen, arbeitete einen Patienten nach dem anderen ab. Ohne die erfahrenen Schwestern und Pfleger der Ambulanz wäre ihr das so niemals möglich gewesen, aber sie kannte ihre Pappenheimer, das waren alles gut eingearbeitete, mitdenkende und hochmotivierte Menschen, die oft mehr konnten als ein Assistenzarzt. Charlene war mit den meisten sehr gut bekannt, war bei allen ihren Besprechungen dabei und hatte auch einen nicht unwesentlichen Anteil an ihrer Ausbildung gehabt. Von einer Schwester oder einem Pfleger, die oder den sie selber eingearbeitet hatte, wusste sie auch am allerbesten, was er zu leisten imstande war. So konnte sie Aufgaben verteilen, abgeben, und das machte ihr diese rasanten Patientenwechsel erst möglich. Das war eine Arbeit am absoluten Leistungsmaximum, und das ohne Pause, ohne Gnade, und absolut ohne jede Zeit. Die Pflegekräfte arbeiteten ihr fachlich hochgradig kompetent zu, und sie lief von Zimmer zu Zimmer, pausenlos im Kreis wie ein Hamster in seinem Laufrad, sah nach Verwundeten in den Behandlungsräumen, erwartete einen der zwei RTWs an der Rampe, einen der zwei Rettungswagen, die das Krankenhaus hatte, organisierte nach der Diagnostik der einkommenden Patienten deren weiteren Werdegang im Krankenhaus, das hieß, sie musste entscheiden, ob dieser Patient stationär aufgenommen werden oder gar sofort operiert werden musste. Und diese Entscheidungen waren sofort zu treffen, auch da gab es keine zwei Meinungen. Charlene konnte das, sie war ein erfahrenes Mitglied in ihrem Ärzteteam, ihre Kollegen wussten das, ihre Oberärzte und ihr Chefarzt ebenso. Das brachte ihr Anerkennung ein, aber auch noch mehr Arbeit, gegen die sie damals machtlos zu sein glaubte, absolut machtlos und ausgeliefert. Sie dachte damals, es gäbe für sie keinen Ausweg aus dieser Falle, in die sie sich irgendwie selber durch ihren maximalen Leistungswillen und ihre damit verbundene fachliche Kompetenz manövriert hatte. Sie hatte das in ihrer Ausbildung sozusagen „mit der Muttermilch“ eingesogen: Ein Arzt war immer da, ein Arzt half immer und sofort, ein Arzt wurde niemals müde. Das waren keine leeren Worte, das war eine grausame Realität für sie. Und ironischerweise machte ihre hohe soziale Kompetenz, ihre Kommunikationsbereitschaft und ihr Willen, im Team zu arbeiten und nicht alleine an der Spitze, das alles nur noch schlimmer. Meist tat sie drei bis vier Dinge gleichzeitig. Sie behandelte Patienten, organisierte etwas am Telefon währenddessen, ließ sich einen Kaffee im Stehen bringen, wimmelte gleichzeitig noch einen Pharmavertreter ab und lachte und scherzte mit den Mitarbeitern. Denn die mussten und wollten motiviert werden, also hatte sie immer gute Laune und ein offenes Ohr für jeden. Das große Team der Chirurgie im Evangelischen Krankenhaus war ihre Familie, ihre eigentliche. Sie war in ihrer Abteilung einer der Motoren, die alles mit ihrem Einsatz am Laufen hielten. Es gab schon Zeiten, wo sie so am Ende war, dass sie begann, dieses System der massivsten Ausbeutung zu hinterfragen, aber die währten nicht lange, dazu war sie viel zu sehr involviert. Die Operationen, die sie ohne die geeignete Qualifikation dazu schon durchgeführt hatte, konnte sie schon lange nicht mehr zählen, aber nur so war es zu verstehen, dass ihr Wissen und ihre Kenntnisse derart rapide zunahmen. Lernen am Menschen, am Subjekt. Manchmal, wenn sie so am Tisch stand, dann fragte sie sich schon, wie die Öffentlichkeit wohl auf diese Mißstände reagieren würde, aber die Öffentlichkeit war nicht informiert und die Ärzte schwiegen kollektiv, wie auch sie. Bisher war ihr noch kein Patient bei so einem Husarenstück gestorben, noch keine Operation irreparabel missglückt. Es stand ja auch immer ein Oberarzt an ihrer Seite, bis -, ja bis sie selber Funktionsoberärztin wurde. Da erst verstand sie wirklich, was echte Verantwortung war, und wie schwer es war, sie auch ganz alleine zu tragen.

Ja, und dann kam der Tag, an dem sie Matt in einer ihrer Behandlungskabinen antraf. An diesen Tag konnte sie sich gut erinnern, denn da war alles anders gewesen.

Charlene hatte es gelernt, mit Menschen umzugehen. Es galt ja nicht nur bei einer Triage, wenn sie mit dem NRW zu einem schweren Unfall mit mehreren Beteiligten kam, schnell und sicher zu entscheiden, wer als erstes, wer als zweites, und so weiter, wer noch am Leben war, wessen Leben man noch erhalten konnte, wer noch ein wenig warten konnte und wer jetzt Zeit im Überfluss haben würde. Auch an solchen Tagen in der Ambulanz, Tagen, in denen sich die Patienten schon im Flur stapelten und die Notfälle nicht abrissen, war sie darauf angewiesen, schnell zu einem fachlich korrekten Urteil zu kommen, wenn sie sich einem Verletzten widmete. Durch ihre lange Schulung in Studium und Beruf war das Aussehen eines Menschen für Charlene recht nebensächlich geworden. Sie achtete mehr auf das, was sie körpersprachlich von sich gaben, wenn sie ein Zimmer betrat. Viel aussagekräftiger als eine aufgeregte und langatmige Erklärung eines Patienten war für sie, wie sich dieser Patient in dieser Zeit verhielt. Hatte er wirklich Schmerzen oder eher Angst? Ein Mensch, der echte Schmerzen litt, verhielt sich allgemein sparsam, reduziert in seinen Äußerungen, haushaltete mit seinen Kräften. Angst bewirkte das genaue Gegenteil, die Menschen waren offensiv ihr gegenüber, suchten lautstark ihre Hilfe, hatten viel Zeit für eine langatmige und diffuse Erklärung des Vorgefallenen. Nicht ganz einfach war es aber in beiden Fällen für Charlene, heraus zu bekommen, wie stark denn die angegebenen Beschwerden des Patienten vor ihr wirklich einzuordnen waren, welche er denn überhaupt genau hatte und wie er sich das denn wirklich zugezogen hatte. Vor ihr saßen oder lagen ja nur in den wirklich allerseltensten Fällen Menschen, die geschult im Umgang sowohl mit Schmerzen wie mit ihren Ängsten waren, die meisten waren ganz normale Menschen, und ganz normale Menschen brachten einfach alles. Ein kleiner Junge mit einem ausgerenkten Finger war in der Lage, die komplette Ambulanz auf den Kopf zu stellen, und ein alter Mann mit einem Herzinfarkt saß ruhig da und erzählte ihr von seinen akuten Magenbeschwerden und einer nicht wirklich vorhandenen Magenblutung. Die Menschen ordneten ihre Symptome einfach ihren eigenen Theorien zu, lernten etwas über ihre Krankheit aus der Apothekenumschau und antworteten grundsätzlich nicht auf die Frage, die sie ihnen gerade stellte.

In dieser Kabine herrschte Ruhe, das war das erste, was Charlene aufatmend sofort wahrnahm, rein intuitiv. Vor ihr saß ein Mann in den späten Dreißigern in einem der beiden Stühle und hielt sich mit einer ganz offensichtlichen Schon- und Entlastungshaltung seinen rechten Arm. Charlene wurde über jeden der Patienten, die in den Kabinen auf sie warteten, vorher kurz und bündig von den Ambulanzschwestern und –pflegern informiert, dieser Mann hier kam mit Verdacht auf einen Unterarmbruch. Sie setzte sich unwillkürlich tief durchatmend auf die Untersuchungsliege und nahm die Papiere zur Hand, die dort lagen. Der Mann ließ ihr diesen kurzen, aber sehr wichtigen Moment, den sie brauchte, um sich möglichst gut zu informieren. Dann sah sie auf und begegnete sofort den intensiv blauen Augen des Mannes, der ihren forschenden Blick ruhig hielt.

Er trug, wie sie nur noch am Rande konstatierte, einen Anzug, der aber mitgenommen zu sein schien, ein wirklich eigenartiger Kontrast. Sein rechter Unterarm war dick angeschwollen, aber er hatte sich noch nicht einmal die Jacke ausgezogen. So musste er starke Schmerzen haben, das verriet seine nonverbale Haltung sofort. Aber er beachtete sie scheinbar kaum, sondern er betrachtete sie. Und das war nun wirklich nicht der alltägliche Gang der Dinge, das war der Augenblick, an dem sich für Charlene der ganze Tag drehte, und nicht nur dieser.

Charlene lächelte ihn an und atmete noch einmal tief durch. Dann erst sprach sie ihn ruhig an, stellte sich kurz vor und fragte ihn, wie er zu seinem stark geschwollenen Unterarm gekommen war. Der Mann reagierte wieder besonnen, er stellte sich ebenfalls erst einmal vor. Sein Name war Matthias Wagner. Charlene konnte sich noch so plastisch an seine Worte erinnern, als wäre es gestern erst gewesen, die Art, wie er das ausgesprochen hatte, als würde er diesen Namen lange nicht jedem verraten. Mit diesen einfachen Worten brachte er ihr die Freiheit, aber das konnte sie damals nicht wissen, sie fühlte nur, wie anders, wie besonders die Atmosphäre in dem kleinen Raum auf einmal war. Matthias Wagner war ein Mann, dem sie wirklich zuhörte.

Charlene setzte sich bequemer auf dem Fensterbrett zurecht bei dieser Erinnerung, so, wie sie auch bequemer auf der Liege Platz genommen hatte. Herr Wagner berichtete kurz und sehr präzise, was ihn gerade schmerzte, und während er das tat, wanderten seine Augen musternd über ihren ganzen Körper. Normalerweise wäre ihr so ein Verhalten eines ihrer Patienten sehr unangenehm gewesen, bei Herrn Wagner störte es sie überhaupt nicht, und das hatte einen sehr gut nachvollziehbaren Grund. Seine blauen Augen blickten freundlich, und die Art, wie er aufnahm, was er sah, war empathisch. Anders konnte Charlene das nicht formulieren. Er taxierte sie nicht nach Schwächen, er musterte sie, um sich einen ihr zugewandten Eindruck von ihrer eigenen Situation zu verschaffen. Und damit drehte er diese Arzt-Patienten-Beziehung einfach um, schnörkellos und ganz leicht.

Charlene begann sofort, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen, und das war unabhängig von dem, was sie hier in dieser Kabine mit diesem Mann vorhatte. Sie befragte ihn eingehender, er antwortete ihr sofort und sehr präzise, und die Art, wie er das machte, stand völlig im Einklang mit dem, was seine Augen aussagten. Sie nickte schon nach wenigen Minuten und bat ihn, sein Jackett und sein Hemd bitte auszuziehen. Sie musste sich einen Überblick über seinen Arm und seinen Thorax verschaffen. So begründete sie ihre Bitte auch, sie befahl es ihm aber nicht. Ein Arzt-Patienten-Gespräch war ein besonders, wenn sie eine Bitte dahingehend äußerte, kam diese normalerweise einem Befehl gleich. Das waren nur Nuancen, kaum wahrnehmbar, aber Herr Wagner hatte das Gespräch gedreht und es störte sie nicht im Mindesten, ganz im Gegenteil. Zu ihrem eigenen Erstaunen zog es sie an, dass dieser Mann, dieser Patient vor ihr, die Führung übernahm. Keine einzige ihrer vielen verschiedenen roten Alarmglocken begann zu klingeln in ihrem Geist, hier und jetzt war alles gut so, wie es war.

Er stand auf und bemühte sich, ihrer Bitte zu entsprechen, sie trat zu ihm und half ihm. Arzt und Patient kamen sich nahe bis auf Tuchfühlung, aber sie waren in aller Regel weit voneinander entfernt. Hier war das nicht so, hier wurde Charlene sehr bewusst, wie nahe sie bei diesem gut gebauten Mann stand, sie fühlte seinen ganzen Körper neben ihrem stehend, nicht nur ihre Hände auf seinem verletzten Arm. Aber auch, wenn er ihre Reaktion zu bemerken schien, wahrte er eine kleine, gewisse Distanz, kam ihr nicht zu nahe und brüskierte sie damit. Er lächelte ihr nur in die Augen, bevor sie den Blick senkte und seinen Arm untersuchte. Sein Unterarm war deutlich angeschwollen, die Haut bereits blutunterlaufen, aber er konnte Handgelenk und Ellbogen frei bewegen, und auch das Schultergelenk. Ihre Hände wanderten sanft über seine Haut, sie waren erfahren, taten ihm nicht mehr weh als unbedingt notwendig. Das schien der jüngere Mann vor ihr zu genießen, obwohl sie an seinen schnellen Reflexen erahnen konnte, dass ihn seine Schmerzen wirklich plagten. Sie machte einen kompletten Schulterbewegungstest, tastete über die Hämatome, die sich auf seinem Oberkörper abzuzeichnen begannen, machte einen kompletten neurologischen Funktionstest. Sein Arm war frei beweglich, das sprach deutlich gegen einen Bruch.

Sie fragte ihn lächelnd, ob er sich in eine Schlägerei hatte ziehen lassen. Das war eine wirklich ungewöhnliche Vorstellung für sie bei seinem Dresscode. Er antwortete ihr nicht unmittelbar, er ließ ein oder zwei Sekunden verstreichen. Sie sah auf und wieder in seine Augen, erkannte, dass er sehr gut abwog, wem er eine solche Frage beantworten würde und wem nicht. Aber der lächelnde Ausdruck in seinen Augen verriet ihr schon, bevor er für seine Antwort Luft holte, dass er ihr antworten würde. Das freute sie. Überhaupt kam dieser schöne Mann wie aus einer anderen Welt in die ihre geplatzt.

Er berichtete ihr, dass ein junger Mann von drei Halbstarken auf offener Straße in die Mangel genommen worden wäre. Er war dazwischen gegangen und hatte einen schweren Schlag abgefangen, der dem Unterkiefer des Opfers gegolten hatte. Das war sein Unterarm hier gewesen, der den Schlag abbekommen hatte, und in dem Moment hatte er sich angefühlt, als wäre er gebrochen. In diesem Augenblick wären dann aber auch schon zwei weitere Männer eingeschritten, die Polizei wäre erschienen und die Situation hätte sich entspannt.

Charlene war einigermaßen sprachlos. Herr Wagner erzählte so sparsam und schnörkellos von einer wahren Heldentat. Sie suchte wieder seine Augen und fing einen aufmerksamen Blick von ihm auf. Ganz offensichtlich hatte dieser Mann vor ihr sich vorgenommen, genauer auf sie zu achten. Sie lächelte ihn einfach so an, wie es ihren Gefühlen entsprach, die er damit in ihr auslöste. Sie signalisierte ihm damit, dass sie sich in gewisser Weise fallen ließ, sein nicht mit Worten ausgesprochenes und dennoch bestehendes Angebot gerne annahm, sich von ihm ebenfalls helfen zu lassen, wie auch immer. Auf dieser Ebene bedurfte es keiner Worte.

Charlene behandelte alle Menschen grundsätzlich gleich, die kleine Putzfrau, die die Gänge des Krankenhauses sauber hielt, kannte sie genauso wie ihren chirurgischen Chef, sie wechselte mit beiden ähnliche Worte, wenn es sich nicht um Fachliches handelte, und wollte es damit keineswegs allen unbedingt Recht machen. Sie war sich ihrer selbst einfach sicher, deswegen übersah sie niemanden, der vor ihr stand. Sie wollte natürlich wie alle Menschen grundsätzlich gemocht und respektiert werden, sowohl als Ärztin wie auch als Mensch, aber trotzdem dachte sie nicht darüber nach, was die anderen wohl gerade von ihr denken mochten. Die Meinung der anderen interessierte sie zwar, aber sie war für sie persönlich nicht maßgeblich, sie richtete sich nicht nach ihnen. Nur in einem Punkt war das tatsächlich anders. Die Meinung der Menschen um sie herum war davon abhängig, was sich in deren Köpfen abspielte, und eine Menschengruppe stach deswegen aus der Gesamtheit der um sie herum wuselnden Menschen heraus. Das waren ihre Patienten, aus beruflichen Gründen interessierte es sie da sehr, was in deren Köpfen bezüglich ihrer Person in ihnen vorging. Das betraf aber nicht sie als Frau, sondern sie als Ärztin und war ausgesprochen wichtig für sie. Sie machte sich wenig Gedanken darum, wie sie als Frau wirklich beschaffen war, dazu hatte sie viel zu wenig Zeit, aber ihr war das Bild, das die Patienten von ihr als Ärztin bekamen, ausgesprochen wichtig.

Männer, ihre Kollegen wie auch die ihres kleinen Freundeskreises, begegneten ihr in aller Regel freundlich und mit Hochachtung, sie schätzten ihr gewinnendes Wesen, ihren natürlichen Charme und ihre Freundlichkeit, aber sie wussten auch immer, dass sie das alles nicht von ihr kaufen oder durch Schmeichelei erwerben konnten. Männer behandelte sie so, wie sie es wollte, und nicht so, wie die Männer es vielleicht von ihr erwarten mochten. Auch bei Herrn Wagner machte sie da keine Ausnahme, aber ihr unterschwellig gewinnender Charme war ehrlich gemeint und ihre Freundlichkeit ebenso, sie ertappte sich dabei, dass sie diesem ungewöhnlichen Mann nicht nur als Ärztin, sondern auch als Frau gefallen wollte, weil er sie interessierte. Und Herr Wagner reagierte auf sie im Großen und Ganzen wie die anderen Männer auch, aber es gab da feine Unterschiede, über die sie gerade aber gar nicht nachdenken konnte. Und sie durfte ihre Gedanken nicht so abschweifen lassen.

Charlene nickte. Sie wußte alles, was sie wissen musste, um zu einer eindeutigen Diagnose zu kommen, schwere Unterarmprellung. Es fehlten nur noch die Anamnese und die Diagnostik, die ihre Diagnose bestätigen mussten. Sie befragte Herrn Wagner also kurz und bündig nach seinen Vorerkrankungen, dann machte sie ihren Einfluss für ihn geltend und verschaffte ihm rasche Röntgentermine und ihre beste Schwester, um ihm Blut abzunehmen. Die ganze Zeit klingelte ihr Krankenhaushandy fast ohne Unterlass, und sie wurde immer wieder unterbrochen. Sie saß in ihrem eigenen, leicht sauren Schweiß, der von diesem Streß herrührte, ohne das überhaupt noch zu bemerken. Herr Wagner schwieg derweil und sah sie nur an. Schließlich nickte sie ihm zu. Zeit, weiter zu eilen.

„Wir sehen uns gleich noch einmal wieder, wenn ich die Befunde beisammen habe, Herr Wagner“, informierte sie ihn dann freundlich. Er nickte und lächelte wieder freundlich.

„Aber Sie werden mir doch niemand anderen schicken, Frau Dr. Hilthaus?“, wollte er dann wissen, und die Art, wie er diese Worte betonte, machte eine ganzheitliche Herangehensweise klar, mit der er ihr begegnete. Er fragte sie nicht nach seinem Arm, nicht nach Linderung seiner Schmerzen, sondern nach ihr selber. Nun, Herr Wagner war ein Privatpatient und hatte damit tatsächlich Anspruch auf freie Arztwahl, aber, und das war der Witz, auf eine Oberarzt- oder Chefarztbehandlung. Er hätte hier und jetzt jederzeit ihren Chef herbeizitieren können. Und auf ihrem Schild stand zu dieser Zeit sehr gut lesbar „Assistenzärztin“. Es gab auch Patienten, die sie zu mögen begannen und ihr auf diese Weise schmeicheln wollten. Aber auch so klangen seine Worte nicht. Sie klangen bestimmt, Herr Wagner wusste, was er wollte, und er wollte von ihr weiter behandelt werden. Sie nickte schon fast gegen ihren Willen.

„Selbstverständlich“, willigte sie sofort ein, und er nickte nur. Auch dieser winzige, kaum erkennbare Vorgang war alles andere als selbstverständlich, denn sie konnte schon in zwei Minuten sonst wo sein, im OP, auf der Intensivstation, bei einem hereinkommenden Notfall. Aber sie würde ihr von ihm eingefordertes Versprechen einlösen, sie hatte Erfahrung genug, um so etwas hinzubekommen.

Sie atmete noch einmal durch, diesmal ein wenig verdutzt, dann erhob sie sich aber und nickte ihm knapp und verabschiedend zu und verließ den Raum wieder.

Sie sah Herrn Wagner nach gut vierzig Minuten erst wieder. Die Diagnostik selber hatte höchstens halb so lange gedauert, aber er hatte klaglos gewartet. Er saß in demselben kleinen Behandlungsraum.

Dieses Gespräch hatte Regeln, und er musste das wissen, genauso wie Charlene. Aber er schien darauf zu pfeifen. Er sah ein wenig so aus, als stünde er kurz vor einem Wutausbruch. Charlene sah die Spannung in seinem Kiefer und um seine Augen herum. Sein Gesicht sah im Ganzen irgendwie mühsam beherrscht aus und seinen Augen waren belebt, funkelten mit einer gefährlichen Tiefe, hatten einen fast schon gierigen Ausdruck. Irgendwie hatte Charlene eine gute Ahnung davon, dass sie das in ihm auslöste, aber als sie das erfasste, war es ihr auf einmal scheißegal, obwohl das eigentlich nicht sein durfte. Es löste in ihr ein immer stärker werdendes Wohlbehagen aus. Sein Arm war in diesen Augenblicken ohne Worte eine Nebensache. Er durchbrach damit endgültig ihre „Arztrüstung“, ihre Berufspersönlichkeit, die sie über ihre wahre zog, wenn sie arbeitete. Dieser Mantel schützte sie vor den oft erschreckenden und angsterregenden Eindrücken und ihrer eigenen Reaktion darauf. Sie durfte keine Angst haben, durfte keine einzige Minute zögern, wenn es um die Wurst ging. Und der Mann vor ihr hatte es mühelos geschafft, diesen lange und schwer erworbenen und nun fast selbstverständlichen Schutz zu durchbrechen, die wahre Charlene Hilthaus vor sich stehen zu haben.

Was dann in diesem Raum gesagt und getan wurde, war eine Nebensache. Charlene hängte ihm an einem kleinen Röntgenschirm seine Bilder auf, suchte noch einmal sehr sorgfältig nach Spuren eines Risses in seinen Knochen und fand keine. Sie erklärte ihm, was er hatte und was nun zu tun war. Ihre genaue Diagnose in seinem Falle lautete schwere Unterarmprellung mit Weichteilverletzung und erheblicher Quetschwunde mit Hämatombildung, aber ohne Knochenbeteiligung. Da ihre Diagnose nun gesichert war, konnte sie ihm auch endlich ein Schmerzmittel verabreichen, vor der Erstellung einer genauen Diagnose hätte es die Symptome verschleiert und damit eine fehlerhafte Diagnose bewirken können. Sie applizierte ihm über die bereits liegende Braunüle ein Antibiotikum und ein Schmerzmittel, desinfizierte und verband die Wunde und legte ihm einen Rucksackverband an. Sie erklärte ihm ihre Therapie genau und gab ihm ihren weiteren Behandlungsplan vor. Er sollte sich regelmäßig in der Ambulanz zur Nachuntersuchung vorstellen, den Arm nicht belasten und sich, wenn irgend möglich, ein paar Tage frei nehmen. Er habe ein recht schweres Trauma, klärte sie ihn auf, das sein Körper erst verkraften müsse. Um eine Wundinfektion zu verhindern, empfahl sie ihm eine antibiotische Anschlußtherapie und eine weiter gehende Schmerztherapie. Er kannte diese Medikamente alle nicht, sie füllte ihm einen detaillierten Behandlungsplan aus und gab ihm die Medikamente alle aus dem Schrank. Das Schmerzmittel begann, sichtlich für sie zu wirken, also schärfte sie ihm auch gleich dazu ein, heute auf gar keinen Fall mehr ein Fahrzeug zu führen. Damit hatte sie für ihn alles getan, was in ihrer Macht stand, und das höchstpersönlich.

Im Verlauf ihres sachlichen Gespräches hatte er scheinbar die Kontrolle über sich zurück gewonnen, er hatte ihr aber auch erfolgreich vermittelt, was sie in ihm auslöste. „Wann treffe ich Sie wieder?“, fragte er sie knapp und abschließend und schaffte es, diese Worte nicht anzüglich oder persönlich klingen zu lassen. Charlene musste überlegen. Sie hatte diese ganze Woche in der Notaufnahme Dienst, also war es kein Ding der Unmöglichkeit.

„Kommen Sie bitte in drei Tagen wieder, Herr Wagner, wenn es Ihnen möglich ist“, antwortete sie ihm, und ihr war sehr bewusst, dass ihre Augen im schräg hereinfallenden Sonnenlicht grün aufleuchteten. Eine blonde Haarsträhne hatte sich aus ihrem Knoten selbstständig gemacht und fiel ihr auf die Wange, sie strich sie leicht abwesend zurück. „Es ist egal, wann Sie kommen, Sie sehen ja selber, dass hier der Bär im Kettenhemd tobt. Sie werden vielleicht warten müssen, aber ich weiß, dass Sie da sind und werde Sie holen kommen. Und ich vergesse Sie auch ganz sicher nicht.“ Er fing wieder ihren Blick ein und sie fiel in diese schwer fassbare Tiefe seiner tiefblauen Augen. Diese seine Irisfarbe war so intensiv, dass sie bei einem anderen Mann an Kontaktlinsen gedacht hätte. Aber Herr Wagner stand für sie über solchen Erwägungen.

Für einen Moment hielt er schweigend einfach ihren Blick, dann nickte er nur und erhob sich etwas mühsam, was auch dem schweren Schmerzmittel zuzuschreiben war, noch bevor sie ihm zur Hilfe kommen konnte. Sie zeigte ihm den Hinterausgang durch die Ambulanz, der eigentlich nicht für Patienten gedacht war. „Das ist auch unser Ausgang, und weiter hinten warten Taxis. Ich wünsche Ihnen einen erfreulicheren Abend, Herr Wagner, und wir sehen uns dann in drei Tagen wieder.“

Es schien ihm schwer zu fallen, denn er zögerte einen Augenblick, aber dann bedankte er sich nur und verabschiedete sich ebenfalls, während ihr Puls bei dieser seiner Reaktion einen gehörigen Satz machte. Was hätte er ihr wohl sagen wollen? Er wandte sich in die von ihr vorgegebene Richtung ab.

Sie sah ihm noch einen Moment nach, wie er mit energischen Schritten der Tür zustrebte. Charlene erinnerte sich noch daran, was ihr in diesem einen Augenblick an diesem überaus langen Tag durch den Sinn geschossen war. Dieser Mann hatte keine einzige Grenze überschritten, dachte sie bei sich, kein dummer Satz wie: „Der OP-Kittel steht Ihnen aber gut, Frau Doktor“, oder „Für eine so erfahrene Ärztin sehen Sie aber wirklich gut aus.“ Und dennoch hatte sie den Eindruck, dass es ihm ein wenig schwer gefallen war, klar bei ihrem Gespräch denken zu können. Er besaß einen elaborierten Sprachstil, hatte aber nur auffallend wenig gesagt, eigentlich nur einzelne, wenige Sätze. Stattdessen hatten seine Augen eine lebhafte Sprache gesprochen. Was ihm aber nicht schwer gefallen war, das war, ihr die Kontrolle über die Situation zu überlassen. Er hatte keinerlei Eindruck schinden wollen, keinen Plan gehabt zu haben. Warum auch, hinterfragte sie sich sofort selber und wunderte sich über die eigenartigen Gänge, die ihre Gedanken gerade so nahmen. Dann aber läutete das Telefon und sie war wieder im Trott, der Fremde war vergessen.

**

©Matt

Zufällige Begegnung (Julia), Teil 5

So, wie versprochen geht es mit der Geschichte um Julia weiter. Zum besseren Verständnis würde ich euch raten, die Geschichte noch einmal zu lesen. Kurze Einführung: Matt ist auf dem Weg zu einer seiner Frauen, als er eine junge Frau beobachtet, die ganz offensichtlich von einem Mann in ihrer eigenen Wohnung überwältigt wird. Er muss nicht lange überlegen, ob er sich nun abwendet oder einmischt. Und als er den Täter vertrieben hat, sieht er sich mit der Not der jungen Frau konfrontiert. Er könnte sie jetzt in ein Krankenhaus bringen und damit von sich abschieben, er könnte sich aber auch selber um sie kümmern. Das dann aber nach seinem eigenen Empfinden…

***

Dann war es an der Zeit, sich der Wirklichkeit wieder zu stellen. Matt war nicht wenig erstaunt, wie sehr ihn diese unverhoffte Zweisamkeit noch immer in ihren Bann zog. Er küsste Julia sanft und entzog sich ihr langsam wieder, stand vorsichtig auf. Er strich sich mit einer abwesenden Geste durch die Haare, schloss seine Hose wieder, hielt die ganze Zeit den Blick auf ihren schönen Körper gerichtet, der nun einige dunkle Flecken aufzuweisen begann. Ihm war nicht bewusst, dass Julia sein Verhalten vielleicht missverstehen oder sogar ablehnen könnte. „Willst du dich unbedingt sofort hier duschen, Kleines, …., weil…?“, setzte er an, um ein wenig Zeit zu schinden und den Kopf klar zu bekommen.

„Lass mich bitte nicht alleine“, unterbrach sie ihn spontan. Matt schaute ihr direkt ins Gesicht. Sie erwiderte seinen forschenden Blick, nach außen hin ruhig und emotionslos, unbeteiligt, wie sie wohl hoffte. Geradeaus in seine Augen, ihre Augenbrauen hoben sich unmerklich und kurz an. Er war eine Zehntelsekunde überrascht, sein Gesicht wich sogar etwas zurück, erhöhte die Distanz, verringert sein Eindringen in ihre Augen, wohl um sie genauer zu fokussieren.

Sie ließ ihren Blick nicht von seinem wegflackern, zwang ihre Pupillen zur Starre, und leuchtete ihr ganzes leicht goldglänzendes Augenbraun direkt in seines.

Okay. Das half ihm auch. Sehr gut sogar!

„Kann ich mit dir…?“, fragte sie zaghaft. Diesmal unterbrach er sie: „Hast du irgendeinen Zweifel daran, Julia?“

Sie atmete tief ein und seufzte dann hörbar erleichtert auf. „Nein. Eigentlich nicht.“

Vielleicht wäre es höflicher gewesen, den Raum zu verlassen. Aber Matt brauchte einfach seine ganze Konzentration, um ihr dabei zuzusehen, wie sie sich langsam und mit elegantem Hüftschwung vom Bett erhob. Sie hatte diese Anmut in ihren Bewegungen, die eine Frau nur sehr schwer erlernen konnte. Tänzerinnen hatten sie oft und wohl auch deswegen ihren Beruf, aber auch das waren meist die etwas älteren, nicht die jungen. Deswegen achtete Matt einfach nur auf ihre Bewegungen, er hatte dafür ein geschultes Auge und liebte diese anmutige Schönheit. Und sein Schmerzmittel schien zu wirken, denn sie schlüpfte behände zu ihrem Kleiderschrank, ohne in ihrem Bewegungsablauf zu stoppen. Als sie am Schrank ankam, konnte er schließlich erstmalig ihren Körper in einer ruhigen Stellung aufrecht stehen sehen, und ihm gefiel sehr, was er sah.

Zudem leuchteten ihre Augen vor Dankbarkeit und Erleichterung beinahe, was für sich genommen schon ein Anblick war, der einem Mann den Verstand rauben konnte. Kombinierte er das mit ihrer grazilen Erscheinung und der Tatsache, dass sie immer noch nackt war, wurde ihm dann doch klar, dass er sie aus seinem Blick entlassen musste, nicht, weil es sie zu stören schien, sondern weil bei ihm glatt das Denken aussetzte.

Er lächelte wortlos und begab sich in den Nebenraum, ihr Wohn- und Arbeitszimmer. Er hob in Gedanken versunken das Fahrrad auf und stellte es ordentlich ab. Er überlegte, was nun zu tun war. Dabei hielt er sich unbewusst vom Fenster fern, das war schon ein Reflex.

Der Kerl war so unauffällig gekleidet gewesen und so rasch hinter ihr verschwunden, dass ihm ganz klar war, dass er es auf Julia persönlich abgesehen hatte. Nun, wenn er sie begehrte, dann stellte sich die Frage, wie er gerade auf sie kam. Und die war ebenso einfach zu beantworten wie beunruhigend. Man begann, zu begehren, was man jeden Tag sah. Ein Mädchen in der Nachbarschaft oder auf dem Campus. Der Typ musste sie von irgendwoher kennen.

Damit war Matt mit seinen Überlegungen aber noch nicht am Ende. Das wäre dann eine Einzeltat aus triebhafter Gier, und es konnte dann auch gut sein, dass er den Mann durch seine harte Gegenwehr für immer in die Flucht geschlagen hatte. Was aber, wenn dieser Mann mehr als das im Sinn gehabt hatte? Wenn er sich mit Julia vergnügen wollte, bis es dunkel war, und sie dann mit sich nehmen wollte? Der Mann war so rasch und planvoll vorgegangen, dass er sich an seine eigene Vorgehensweise erinnert fühlte, die Tat eines Kollegen sozusagen. Matt verzog das Gesicht. Das war ihm alles andere als Recht, aber es hatte durchaus den Anschein, dass auch dieser Kerl geübt im Einfangen und Entführen von Frauen sein konnte. Und damit eröffnete sich ein weites Feld, an das er lieber nicht denken mochte. Eine wehrlose und gebrochene Frau, mit der man viel anstellen konnte. Verdammt noch mal! Und die von der Polizei hätten sie wieder gehen lassen, zurück hierher.

Matt setzte sich an den kleinen Esstisch so neben das Fenster, dass man ihn von außen nicht sehen konnte. Sie konnte nicht hier bleiben, so viel stand für ihn fest. Nicht nur, dass diese Räumlichkeiten sie verstören würden, es ging auch darum, dass der Täter den Versuch wiederholen konnte. Er musste sich erst vergewissern, dass Julia hier auch in Sicherheit war. Verflucht! Das durchkreuzte gerade seine Pläne so richtig, aber er konnte es nicht ändern. Das Wohlergehen der jungen Frau lag ihm am Herzen und war ihm einfach auch wichtiger.

Er holte ein kleines Smartphone aus seiner Manteltasche. Er hatte es mit einem über 2000 Euro teuren Chip ausgestattet, der jegliches Abhören oder Kopieren der Inhalte unterband, aber nur dann, wenn auch das Empfängerhandy mit so einem Chip ausgestattet war. Er hatte für Charlene gesorgt, und unter anderem auch dafür, dass auch ihr Handy einen solchen Chip hatte. Er hatte sie sofort am Apparat, und ihre Stimme klang nun doch deutlich erleichtert.

„Herr, das ist gut, dass du dich meldest“, hörte er ihr leicht rauchiges Timbre in ihrer kontrollierten Stimme. Er lächelte leicht, er wusste, er hatte sie lange warten lassen und das war für gewöhnlich nicht seine Art.

„Charlene, ich muss eine junge Frau mitbringen.“ Er ging bewusst weder auf ihre Erleichterung noch auf seine Gefühle ein, sie wusste das im Grunde alles und er erwartete von ihr, dass sie ihm auch wirklich Glauben schenkte. Er würde sie weder achtlos oder lieblos behandeln und auch nicht einfach wegwerfen, sie gehörte ihm. „Sie wurde vergewaltigt, ich konnte den Kerl vertreiben, aber jetzt kann sie hier nicht bleiben. Hast du dir für morgen frei genommen?“

„Ja, Herr, natürlich.“ Immer noch klang ihre Stimme ruhig, aber er wusste, sie hatte Umgang und Erfahrung mit solchen Frauen.

„Kannst du dir noch ein paar Tage nehmen?“ Jetzt zögerte sie einen kleinen Moment. Dann hörte er sie nur tief durchatmen, und sie bewegte unruhig ihren Kopf beim Sprechen. „Ja, Herr, ich glaube, das bekomme ich hin. Soll ich ihr das Gästezimmer fertig machen?“

„Das ist lieb von dir, mein Schatz“, antwortete er ihr ruhig. Er hatte Charlene diese große Wohnung gekauft und sie für sie liebevoll ausgestattet, von ihrem eigenen Gehalt hätte Charlene sich das niemals leisten können. Das Gästezimmer wurde selten benötigt, deswegen führte es in ein luxuriöses eigenes Badezimmer, das eine große Badewanne mit Whirlpool-Eigenschaften besaß. Die Wohnung war so weitläufig, dass die beiden Frauen sich in Ruhe kennen lernen konnten, sie war auch so weitläufig, dass Charlene auch gleich noch zu ihrem Recht kommen würde, ohne dass Julia das mitbekommen würde. „Gut, dann sind wir in ungefähr einer Stunde bei dir. Reicht das Abendessen für drei?“

„Das bekomme ich hin. Muss ich noch irgendetwas zusätzlich erledigen?“

„Mach dich nicht so schön, wie du es sonst immer bist, wenn mein erster Blick auf dich fällt, Liebes. Julia hatte für heute genug an Belastung. Und du weißt, in meinen Träumen bist du eh immer nackt. Du brauchst wahrhaftig keine teuren Kleider, um mir das zu zeigen, Liebes. Denke daran: Lebe deine Träume und verträume nicht dein Leben. Und in diesem Fall lebe auch meine Träume!“ Sie lachte leise und liebevoll. „Julia muss einen Koffer packen, und dann müssen wir erst hier ungesehen wegkommen und eine Runde drehen. Wir bereden alles Weitere beim Essen.“

Charlene lachte wieder, diesmal deutlich erfreut angesichts seines baldigen Kommens, und er freute sich auch auf sie. „Ich liebe dich, Herr“, antwortete sie ihm abschließend.

„Und mein Herz musst du nicht mehr gewinnen, stolze Frau, das hast du schon lange! Ich bin gleich ganz alleine für dich da!“, mit diesen zärtlichen Worten beendete er leise lächelnd das Gespräch. Dann ging er zu Julia, um ihr sein weiteres Vorgehen zu erläutern.

Julia hörte sich Matts ruhige Befehle an und reagierte etwas verwirrt. Sie wusste nicht, wohin es gehen sollte, in ihr arbeitete das Vorgefallene noch gewaltig, sie war ziemlich durcheinander. Matt konnte in ihrem schönen Gesicht lesen wie in einem offenen Buch, aber er lächelte nur und fügte seinen Anweisungen kein weiteres Wort hinzu. Sie gab sich einen deutlich sichtbaren Ruck und tat einfach, was er ihr aufgetragen hatte, packte einen Koffer mit ihren wichtigsten Kleidungsstücken und allem Notwendigen für ein paar Tage Abwesenheit aus ihrer Wohnung. Matt begab sich wieder in den Nebenraum und ließ sie ruhig machen, er wusste, sie brauchte nun einfach auch etwas Zeit. Zeit war im Moment etwas sehr Kostbares für sie. Er bestellte derweil ein unauffälliges, kleines Auto mit Fahrer an die Adresse. Wenn er mit seinen Vorsichtsmaßnahmen Recht behalten sollte, dann würden die Fenster zur Straße hin beobachtet werden. Es war inzwischen dunkel, er konnte also die Vorhänge zuziehen, ohne einen Verdacht zu erregen. Aber dann musste er auch damit rechnen, dass die Schlepperbande wissen wollte, wer er war, was er nun zu tun gedachte und vor allem, wie an Julia heranzukommen war. Vielleicht würden sie verfolgt werden, wenn er mit ihr so einfach das Mietshaus zur Vorderseite heraus wieder verließ. Er mochte es nicht darauf ankommen lassen, der bestellte Kleinwagen sollte in den Hinterhof fahren, wo sie beide dann ungesehen einsteigen konnten. Und der bestellte Fahrer war ein Spezialist in Sachen Spurenverwischung, er konnte einen eventuellen Verfolger nicht nur mit Leichtigkeit ausmachen, sondern auch genauso routiniert abhängen.

Julia unterbrach seine Gedanken früher als gedacht, als sie auf einmal mit dem gepackten Koffer, langer Hose und Mantel neben ihm stand. Er sah sie forschend an. Laß es raus, dachte er, aber sie gab keinen Ton von sich. Wie viel Zeit wohl vergehen würde, bis die Kraft in ihre Glieder und in ihr Denken zurückkehrte, das wusste er nicht, aber als ein kritischer Beobachter sah er ihr an, wie müde sie ihren Kopf hielt. Sah ihr den inneren Kampf an, sie hielt jetzt eine gewisse Distanz zu ihm und wollte doch nichts mehr als seine Nähe, einfach bei ihm sein. Sie sah ihn ebenfalls an, sah, wie er sie anblickte, und da war es mit ihrer Beherrschung endgültig vorbei. Das gab ihr den Rest. Sie tat einen tiefen, und lauten, fast schon panischen Atemzug, dann schlug sie die Augen nieder und presste mühsam beherrscht ein paar kurze, abgehackte Schluchzer hervor.

Schnell zog er sie in seine Arme, sie sperrte sich, leistete beinahe Gegenwehr, die er aber mit Leichtigkeit überwand, bis sie dann doch in seine Umarmung sank und sich fest an ihn klammerte. Er konnte ihr Gesicht nur kurz sehen, es war nass vor Tränen. Am ganzen Körper zitternd und leise schluchzend kam sie ganz langsam wieder etwas zur Ruhe, während ihm erneut bewusst wurde, wie jung sie noch war.

„Alles gut?“, fragte er sie ganz leise und ganz dicht in ihr Ohr, als sie nicht mehr am ganzen Leib bebte. Er rieb ihr über den Rücken, eine zärtliche, beschützende und erwärmende Geste, wortloser Zuspruch.

Sie schüttelte leicht den Kopf.

„Wollen wir uns noch ein wenig setzen?“, meinte er besorgt.

Sie schüttelte wieder den Kopf, diesmal allerdings wesentlich energischer. „Es tut mir so leid“, brach es schließlich aus ihr hervor. „Ich…ich…kannte ihn nicht, das musst du mir glauben….“

„Wovor fürchtest du dich denn, Kleines?“, wollte er wissen. Er war gerade etwas ratlos, wie er mit der Situation umgehen sollte und was sie wohl gerade umtrieb.

„Er kam von hinten, einfach so“, presste sie hervor.

„Aber… was hast du denn, Kleines?“ Es klang, als würden ihr die Tränen wieder in die Augen schießen. Er hatte ganz einfach keine Ahnung, was sie im Moment meinte.

„Ich hab… ich hab….ihn noch nie gesehen“, stammelte sie, ihre Worte überschlugen sich auf einmal fast. „Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas mal passiert. Ich konnte nicht reden. Ich konnte nicht atmen. Und er hat mich nicht losgelassen. Ich konnte es nicht verhindern. Und dann hast du plötzlich vor mir gesessen. Es tut mir so leid.“ Es sprudelte nur so aus ihr heraus, und er musste es erst einmal schaffen, sich einen Reim darauf zu machen. Er wollte ihr in die Augen sehen, aber sie wehrte sich energisch gegen seine Versuche, ihr Gesicht von seiner Schulter zu lösen.

„Ich wollte es nicht. Ich weiß, dass es ekelhaft ist. Aber ich kann nicht dafür! Es ist einfach passiert! Denk bitte nicht schlecht von mir! Bitte, denk nicht schlecht von mir!“

„Sekunde mal, Liebes“, hakte er nun endlich ein. Endlich ging ihm ein Licht auf. Er war mit dieser Situation eindeutig überfordert, wie er es jetzt gerade wieder merkte. Und er sehnte auf einmal Charlene herbei. Bis jetzt war er sich sicher gewesen, diese Situation ganz selbstverständlich alleine händeln zu können, wie alles in seinem Leben bisher, aber ihm wurde schlagartig bewusst, dass da ein großer Unterschied bestand. Die Frauen, die er sich gegriffen hatte, hatte er geführt, mit welchen Mitteln auch immer, aber er hatte zumeist gewusst, was in ihnen gerade vorgehen musste. Diese Situation mit Julia dagegen hatte ein anderer so herbeigeführt und die Regeln anders bestimmt, und er konnte nun nicht davon ausgehen, dass sie so einfach auch verstand, was er mit ihr getan hatte und warum, wie er überhaupt zu ihr stand. Er atmete tief durch.

Er versuchte, ihren Oberkörper ein wenig nach hinten zu beugen, damit er ihr Gesicht sehen konnte, aber sie wehrte sich wieder. Schließlich packte er ihren Nacken und übte ein wenig Zwang aus, bis er sie vor sich hatte.

Tatsächlich war ihr Gesicht tränenüberströmt, und sie hatte sich die Lippe aufgebissen. Ihre Augen blickten verzweifelt und traurig, aber gleichzeitig leuchteten sie noch von… nun… ziemlich sicher von seiner Zuwendung vorhin. „Fragst du dich, was ich von dir halte, weil dir Gewalt angetan wurde?“, fragte er sie, ehrlich ein wenig ungläubig, und sah ihr tief in die Augen.

Sie wich seinem Blick aus und nickte, während sie sich verzweifelt auf die Lippe biss. Er drehte ihr Gesicht ein wenig, so dass sie ihn wieder ansah. „Du….“, wimmerte sie nur noch leise, „du musst mich als unglaublich dreckig empfinden, gerade benutzt. Und du…..“, nun versagte ihr die Stimme endgültig mit einem kläglichen, kleinen Laut. Wieder atmete er tief durch.

„Schau mir in die Augen, Julia“, forderte er sie auf. „Siehst du da irgendwo Ekel?“

Sie runzelte ein wenig die Stirn und erwiderte nun tatsächlich prüfend seinen Blick. Er sah das und setzte noch einen drauf, strich ihr sanft über die Taille und drückte sie gegen seinen Unterleib, so, dass sie diese Geste keinesfalls mehr missverstehen konnte. Sein Geschlecht richtete sich schon leicht wieder auf, zumindest so, dass auch das für sie eindeutig war.

„Oder hast du vielleicht den Eindruck, dass ich mich bemühen müsste, dir zu beweisen, wie anziehend ich dich finde?“ Sie reagierte, indem sie erstarrte und sich an seinem kräftigen Körper anspannte. Er konnte fühlen, wie ihr ganzer Körper unter der sachten Berührung erzitterte und sich zwischen ihnen erneut eine zarte, aber deutlich erotische Spannung aufbaute, die ausgelebt werden wollte. Er zögerte nicht mehr. Julia hatte heute genug durchgemacht und ganz sicher auch genügend  Schritte aus eigener Kraft getan. Er bückte sich leicht und hob sie einfach in seine Arme, trug sie zu ihrem schmalen Sofa und setzte sich mit ihr auf seinem Schoß sitzend. Andächtig langsam legte er dann eine Hand um ihren Hinterkopf und küsste sie zärtlich, die andere schob er langsam unter ihren leichten Pullover, er genoss das Gefühl ihrer seidigen Haut unter seinen Fingern.

Er war mit einer ganz bestimmten Absicht hierher gekommen, nämlich der, sie von diesem Kerl zu befreien. Sein Entschluss, ihr danach auf seine Weise zu helfen, gründete sich auf das, was er gesehen hatte und auf sie ganz persönlich. Sie hatte sich mit ihren Worten eben vielleicht so kühn wie nie zuvor einem Mann gegenüber geöffnet. Das musste er einfach honorieren.

„Ich habe mich selten so geehrt gefühlt, einer Frau zur Hilfe eilen zu dürfen“, sagte er leise und fing dabei ihren umherirrenden Blick ein. Er sah, ihre Wangen glühten nicht weniger als ihre Augen auf, als sie seinen Blick erwiderte. Ihr Mund war leicht geöffnet und ihre Unterlippe zitterte fast unmerklich, als seine Worte sie erreichten. Er strich sanft über ihr rabenschwarzes Haar, das vom Schein der Lampe zum Schimmern gebracht wurde.

„Ich habe eine Reihe meiner besten Umgangsweisen mit Frauen herausgeholt, um deine Entscheidung dahin gehend zu beeinflussen, dass du dir von mir hast helfen lassen, Julia. Und ich will verdammt sein, wenn ich das nicht auch allzu gerne gemacht habe, und dafür werde ich mich bei dir auch nicht entschuldigen, Kleines“, fuhr er fort. „Als ich dich in dieser Situation vorfand, wollte ich dich einfach nur beschützen. Dann aber habe ich dich angesehen, und ich habe keine missbrauchte Frau gesehen, sondern eine umwerfend schöne, junge Frau, die am Ende ihrer Kraft mit ihren Dämonen kämpfte und zu unterliegen drohte. Ich kann dir noch nicht einmal genau sagen, was mir an dir so außerordentlich gut gefallen hat, aber ich konnte dich nicht einfach deinem Schicksal überlassen. Und als ich dann endlich zu dir vorgedrungen war, hast du das mit deinem Niveau und deiner Intelligenz sofort bestätigt. Du hast das Gespräch mit mir gesucht und mich einfach bezaubert mit deiner jugendlichen Offenheit und deiner unglaublich anziehende Bereitschaft, mir trotz dem, was dir zugefügt worden war, zu glauben. Glaube mir, ich dachte, ich kenne die Frauen, aber du hast mir eine Seite an dir gezeigt, die mir noch nicht bekannt war. Und für mich steht weiter fest, dass ich jetzt auf dich aufpassen werde, bis du selber entscheiden kannst, was du tun willst, weil ich dich bei mir haben will.“

Julia starrte ihn mit großen Augen an, ihr Atem ging schwer. Matt war nicht klar, ob sie  überhaupt wahrgenommen hatte, was er ihr mit seinen letzten zwei Sätzen gestanden hatte, denn was auch immer zwischen ihm und ihr passiert war, es brachte ihn immer noch deutlich aus dem Gleichgewicht. Sie sah ihn gefangen an. Aber sie bewies ihm erneut, dass sich hinter ihrem zauberhaften Gesicht ein helles Köpfchen verbarg.

„Mir ist klar, dass du mich manipuliert und in deinen Bann gezogen hast. Aber jetzt weiß ich auch sicher, dass du mich nicht verachtest. Ich danke dir.“ Ihre Stimme war leise und rau, aber sie sah ihm direkt in die Augen, während sie ihm antwortete. Und das, was sie sagte, klang, als hätte es eine deutlich erfahrenere Frau ausgesprochen.

Er schluckte bei ihren ziemlich deutlichen Worten. Auch, wenn er ihr gegenüber mit offenen Karten gespielt hatte, waren seine Methoden durchdacht und ihrer Psyche überlegen gewesen. Und auch, wenn er selber daraus nie ein Geheimnis gemacht hatte, auch bei Julia nicht, war er sich auf einmal durchaus der Tatsache bewusst, dass er seine überlegene einschlägige Erfahrung mit Frauen bei ihr ohne mit der Wimper zu zucken eingesetzt hatte. Er zog sie eng an sich und drückte ihr Gesicht sanft an seinen Hals. Er konnte ihr in diesem Moment nicht in die Augen sehen. Sie reagierte darauf, indem sie ihre Arme um seinen Nacken legte und tief durchatmete.

„Es gibt keine Garantien, Kleines“, griff er ihr Gespräch von vorhin nachdenklich wieder auf, „aber es gibt wahre Gefühle, und ich denke, die fühlst du gerade an mir wie an dir. Und die werden uns beide nicht trügen. Ich nehme dich erst einmal mit mir, wir gehen zu einer meiner Frauen. Sie wird sich um dich kümmern, wenn ich es nicht kann, und nach ein paar Tagen oder Wochen entscheiden wir dann, was zu tun ist. Du bekommst von uns beiden alle Zeit dieser Welt, um dich mit dem Vorgefallenen auseinander zu setzen und dir darüber im Klaren zu werden, was du nun tun möchtest. Du wirst erleben können, wie ich mit meinen Frauen lebe, und, damit dir das gleich ganz klar ist, dir wird auch dieser Weg offen stehen, wenn du das möchtest.“ Er hob ihr Gesicht wieder an und sah ihr tief in die Augen. „Mir ist wichtig, dass du das verstehst, Kleines. Dieses Angebot mache ich dir jetzt nur einmal, aber es steht. Wann immer du darauf zurück kommen willst, musst du mich nur ansprechen. Aber ich werde es nicht wiederholen. Mein Wort gilt, ich bin ein Mann, der solch ein Angebot nicht zwei Mal macht. Hast du das verstanden?“ Sie sah ihn mit großen, verführerisch glänzenden Augen an und nickte nur ruhig. Sie war einfach zauberhaft, sie sagte kein falsches Wort, das die verdichtete Atmosphäre zwischen ihnen jetzt zerstören konnte. „Ich will, dass du das jetzt schon weißt, damit dir keine falschen Gedanken kommen, wenn du mit uns zusammen lebst, Kleines. Deswegen ist es wichtig, dass du dir meine Worte jetzt genau merkst.“ Wieder nickte sie nur, gefangen und etwas scheu, unentschieden, aber voller Zutrauen. Er lächelte sie an.

„Gut, Liebes, ich denke, dann können wir hier verschwinden. Hast du alles gepackt, was dir wichtig ist? Nichts vergessen?“ Sie nickte nur, blieb aber so sitzen, die Arme fest um seinen Nacken geschlungen. Dann presste sie sich auf einmal geschmeidig wie eine Katze und ohne jeden inneren Wiederstand an ihn und küsste ihn scheu. Er reagierte unwillkürlich, fasste ihren Hinterkopf und es wurde ein langer, intensiver Kuss daraus.

„Du machst mir etwas Angst, aber es zieht mich so stark zu dir, dass mir auch das schon wieder Angst macht“, gestand sie ihm. Er sah sie etwas überrascht an, verbarg das aber recht gut. „Du bringst mich dazu, alle Dinge zu vergessen, die ich jemals für wichtig gehalten habe. Und mich nach Dingen zu sehnen, die ich von mir gar nicht glauben kann“, erklärte sie mit leise bebender Stimme. „Du machst mir Angst, aber gleichzeitig…“

Als sie ein wenig schamhaft verstummte, hatte er sich von seiner Überraschung erholt. Auch das hatte eine Frau noch nie zu ihm gesagt, er hatte wahrlich viele Komplimente zu hören bekommen, aber dieses war einfach einzigartig. Er griff den Faden auf.

„Gleichzeitig willst du auch, dass dein Wunsch nach diesen Dingen nicht unerhört bleibt“, nahm er sie beim Wort. „Du wünschst dir, dass ich deine Wünsche nicht nur höre, sondern auch erhöre.“ So, wie er sie interpretierte, klang es einfach ehrlich, nicht von konventionellen Bedeutungen des Wortes unerhört überschattet. Sie nickte nur, ihre Wangen wurden rosig. „Und du wünschst dir, dass ich nicht nur von deinem Körper Besitz ergreife, sondern auch von deiner Seele.“

Ihr Nicken wäre nicht erkennbar gewesen, wenn er ihr nicht in die Augen gesehen hätte. Ihre Lippen waren nur ein winziges Bisschen voneinander entfernt. Julias warmer Atem schlug ihm ins Gesicht und er konnte an seiner Brust ihren zarter Körper leicht bebten fühlen wie im Rhythmus ihrer Herzschläge. Matt war froh, dass ihn niemand sehen konnte, vor allem keiner seiner Freunde, die ihn gut kannten. Denn er war komplett überrascht, fast fassungslos, wie sie trotz dieser Erfahrung von vorhin ihre Gefühle zu ihm entwickelte, in einer Klarheit und Geschwindigkeit, die ihn fast atemlos machte. Aber sie brauchte unbedingt Bedenkzeit, so viel war ihm dann doch klar, er spürte die emotionale Spannung zwischen ihnen fast schon greifbar, und das war ihm zu schnell. Er war mehr als überrascht, dass es ihm, einem wie ihm auf einmal zu schnell ging, das es diesmal nicht umgekehrt war. Und das machte einen unauslöschlichen Eindruck auf ihn. Aber bremsen musste er sie nun behutsam, bevor sie etwas sagen konnte, was sie später bereuen könnte. Das wollte er auf gar keinen Fall, er wollte viel mehr, dass sie ihn wirklich begehrte, dass sie von selber und aus eigenem Antrieb, mit voller Einsicht in die Dinge zu ihm kam. Bei ihr wollte er auf einmal, dass sie diesen letzten Schritt von selber machte, und deswegen wiederstand er dem fast schon übermächtigen Drang in sich, sie wieder zu küssen, an sich zu ziehen und noch einmal zu nehmen. Er wollte, dass sie zu ihm kam, wenn sie wirklich so weit war, dass sie es nicht mehr aushielt, und keine einzige Sekunde früher. Wenn ihm heute Morgen jemand das gesagt hätte, er hätte wirklich jede Wette dagegen gehalten, und sei es die um sein gesamtes Vermögen. Aber er wollte auch verdammt sein, wenn er diese Situation jetzt nicht richtig lenken konnte.

„Ich werde dich in Besitz nehmen, Julia“, versprach er ihr. „Ich werde dich nicht verlassen, und wenn du es zulassen willst, dann werde ich dich führen, dann wirst du mich immer an deiner Seite wissen. Und das ist nichts als die reine Wahrheit über die einzige Zukunft, die deine Beziehung zu mir haben wird. Wenn es das ist, was du von mir haben möchtest, was du von mir hören willst, wirst du das auch bekommen. Und ich werde mich dabei allein auf die Reaktion deiner Augen verlassen, das stärker werdende Zittern deines Körpers, dein Körper wird mir verraten, was du dir wirklich wünschst.“

Ihre Augen waren dicht vor seinen. Sie sah aus, als hätte sie viele verzweifelte Tränen vergossen, zu viele leere Bitten ausgesprochen, nicht wie eine so junge Frau, deren Körper und Geist noch im Einklang sein sollten. Aber es war gerade das Echte in dieser Situation, das sie so intensiv fühlen ließ, die echte Gewalt, der gegenüber sie jeglicher Selbstkontrolle entzogen gewesen war und die sie immer noch beherrschte, die sie nun auch in seine Arme trieb. Ihre Instinkte, ihr eigentliches Wesen mussten wieder zum Vorschein kommen, das war Matt klar. Im Moment war sie sehr hilflos, aber dennoch glühte in ihren Augen ein Funke. Sie musste zur Ruhe kommen. Er stand auf, verlagerte ihr Gewicht mit einem Arm um ihre Hüfte in diesen Arm. Instinktiv klammerte sie sich mit den Beinen um seine Hüften herum fest, zog ihre Arme um seinen Nacken zusammen und verbarg ihr Gesicht fest an seinem Hals. Er fühlte ihren heißen Atem und ihre heißen Tränen, sie atmete schwer. Er nahm mit der anderen Hand ihren Koffer und verließ mit ihr einfach die Wohnung, setzte den Koffer noch einmal ab, um die Tür sorgfältig zu verschließen. Im Hinterhof wartete ein kleiner Nissan, er öffnete die hintere Tür und ließ sie vorsichtig auf das Sitzpolster gleiten.

„Liegen bleiben, Kleines“, befahl er ihr leise, verstaute den Koffer im Kofferraum und setzte sich dann zu ihr, hob ihren Oberkörper sanft an und legte sie sich auf seinen Schoß. „Bleibe so, Julia“, wies er sie noch einmal an, streichelte sanft über ihre Haare und ihr Gesicht. „Wir müssen damit rechnen, dass wir verfolgt werden“, wandte er sich dabei ruhig an den Fahrer. „Sie müssen alle eventuellen Verfolger abhängen.“ Der Fahrer nickte nur, fuhr sofort an und lenkte das kleine Fahrzeug geschickt aus dem Hinterhof heraus in den Verkehr. Matt kümmerte sich nicht darum, was er tat, die Männer, die diese Agentur ihm bei Bedarf von Zeit zu Zeit schickte, waren alle erfahren und zuverlässig. Er holte sein Smartphone noch einmal heraus und informierte Charlene ruhig, dass sie bald da sein würden, bat sie mit wenigen, ruhigen Worten, ein starkes Beruhigungsmittel und eine Nachtwache zu besorgen. Charlene fragte nicht nach, Matt wusste, sie verstand ihn auch jetzt. Und er tätigte noch einen weiteren Anruf. Er hatte einen guten Bekannten hier in der Gegend, der Events organisierte, den bat er um einen Gefallen und lächelte leicht, als ihm dieser Gefallen zu so fortgeschrittener Stunde bereitwillig für diese kommende Nacht gewährt wurde. Er würde jetzt nicht zur Ruhe kommen, er wollte Charlene entschädigen für den ausgefallenen Abend mit einer noch ausgefalleneren Nacht, und Julia musste dringend schlafen. Für sie hatte alles andere nun Zeit bis morgen.

Die Fahrt dauerte nicht lange und endete ruhig vor Charlenes Wohnung in demselben Viertel. Julia hatte sich halb auf seinem Schoß eingerollt, er nahm sie wortlos so wie vorhin wieder auf seine Arme und trug sie kommentarlos in Charlenes Wohnung. Inzwischen war es dunkel geworden. Charlene öffnete ihm schon vor seinem Anklopfen die Tür, sie hatte seinem Wunsch entsprochen und war ganz normal gekleidet. Er trug die schon halb dahin dämmernde Julia direkt in das Gästezimmer und legte sie in das dortige breite Bett.

***

©Matt